Mittwoch, 2. Juli 2025

Wenn der Postbote dreimal klopft ...

Hallo! Wie Dol­met­scher und Dol­met­sche­rin­nen ar­bei­ten, be­schre­ibe ich hier seit 2007. Meine Haupt­ar­beits­spra­che ist Fran­zö­sisch (in bei­de Rich­tun­gen). Deutsch ist mei­ne Mut­ter- und wich­tigs­te Schrift­spra­che. Die Büro­kol­le­gin über­setzt ins Eng­lische. Ich be­ob­ach­te auch, was das Leben mit uns macht. Heu­te wie­der: „KI-Mitt­woch“.

Kopf, französischsprachige Zettel, "Jean peut-être" auf einer Berliner Wand
Vielleicht Jean?
Mei­ne Freun­din, nen­nen wir sie Dag­mar, muss­te kürz­lich ei­ne neue Mit­ar­bei­te­rin (oder ei­nen Mit­ar­bei­ter) ein­stel­len und hat übers In­ter­net ge­sucht. 
Ihr Bü­ro liegt in ei­nem Ber­li­ner Hin­ter­hof, drit­ter Stock. Der Post­bo­te kommt hoch, hör­t sie drin te­le­fo­nie­ren und klopft vor­sich­tig, ein­mal, zwei­mal, drei­mal. Er ist ei­ne Nach­wuchs­kraft, sie wa­ren ein­an­der noch nie be­geg­net. An die­sem Mor­gen über­rasch­t er sie mit über 100 Um­schlä­gen, al­les Be­wer­bun­gen!

Die Stel­le ist nicht über­mä­ßig do­tiert, die An­for­de­run­gen al­les an­de­re als be­lie­big. Dag­mar rech­ne­te mit fünf bis zehn Zu­schrif­ten. 

On­li­ne mel­den sich noch­mal weit über 500 Kan­di­dat­:in­nen. Dag­mar setzt kurz­er­hand ih­re Toch­ter zur Vor­aus­wahl ein, sie geht in Bran­den­burg zur Schu­le und hat |schon Fe­ri­en| frei, wäh­rend die 13. im Abi schwitzt. Die Ober­schü­le­rin ist schnell, hat kla­re Kri­te­ri­en, die pro­fes­sio­nell klin­gen. Ihr fällt auf, dass vie­le An­schrei­ben und Le­bens­läu­fe fast wort­gleich sind, durch­ge­stylt bis in den letz­ten Halb­satz. Der Ton: hoch­pro­fes­sio­nell und aus­tausch­bar. Ar­beits­su­chen­de nut­zen Tools wie Chat­GPT, um mit Mi­ni­mal­auf­wand mas­sen­haft maß­ge­schnei­der­te Be­wer­bun­gen zu er­zeu­gen.

Dag­mar schal­tet sich rasch ein. Was auf­fällt: Vie­le Be­wer­be­r:in­nen pas­sen über­haupt nicht, bit­ten aber um ei­ne Ein­gangs­be­stä­ti­gung fürs Ar­beits­amt. OK, die­se Art von Bü­ro­kra­tie­zu­nah­me ken­nen wir.

Pa­ra­dox bei den ernst­ge­mein­ten Zu­schrif­ten: Kei­ne Tipp­feh­ler in den Un­ter­la­gen ist kein Merk­mal für Ge­wis­sen­haf­tig­keit mehr. „Glatt­ge­bürs­tet“, nennt Dag­mar das, und sie meint nicht die Be­wer­be­r:in­nen, son­dern die Un­ter­la­gen.

Man­che Fir­men stel­len schon fes­te Mit­ar­bei­te­r:in­nen ab, die oder der sich durch die Flut an Do­ku­men­ten kämpft. An­de­re nut­zen KI zur Vor­aus­wahl. Und das ist ein Pro­blem: Denn die KI sor­tiert gna­den­los nach fes­ten Mus­tern aus. Wer ei­nen Aus­lands­ab­schluss hat und die KI er­kennt ihn nicht, ein Jahr zu alt ist oder ei­ne Lü­cke im Le­bens­lauf hat, fliegt raus, auch wenn die Per­son ide­al ge­we­sen wä­re.

In den USA nennt man das Phä­no­men „Hi­ring Cha­os“, und es schwappt her­über. Auf Platt­for­men wie Lin­ked­In rau­schen pro Mi­nu­te hun­der­te Be­wer­bun­gen durchs Sys­tem, ver­mel­det die Be­rufs­platt­form Lin­ked­In selbst; sie­ben wür­den mi­nüt­lich an­ge­stellt.

Die Re­ak­ti­on der grö­ße­ren Un­ter­neh­men erfah­ren Dag­mar und ich am Abend bei ei­nem Un­ter­neh­me­rin­nen­cock­tail: Die let­zte Aus­wahl­run­de wird oft mit ei­ge­nen KI-Sys­te­men ge­macht. Es be­wirbt sich nicht mehr ein Mensch bei Men­schen, son­dern ein Bot beim Bot. Eine Per­so­nal­ver­mitt­lerin be­rich­tet von mehr Be­trugs­ver­su­chen. Ers­te KI-An­bie­ter, aus­ge­rech­net die!, ra­ten Be­wer­be­r:in­nen mitt­ler­wei­le da­von ab, ih­re Tech­nik für Le­bens­läu­fe zu nut­zen.

So keh­ren ers­te Un­ter­neh­men zu dem zu­rück, was sich nicht au­to­ma­tisie­ren lässt: Pro­be­ar­bei­ten, ech­te Auf­ga­ben im Feld. Das di­rek­te Ge­spräch per Zoom fin­det frü­her statt. (Co­ro­na sei Dank, ken­nen al­le die Tech­nik.) Das könn­te trotz al­lem ein Hoff­nungs­schim­mer sein: für ei­ne Zu­kunft, in der das In­di­vi­du­um zählt.

Die KI kann für bei­de Par­tei­en im Be­wer­bungs­pro­zess ei­n Prob­lem sein. Nur, wer auf der Be­wer­be­r:in­nen­sei­te sie gut und un­sicht­bar nut­zen kann, hat ei­nen Vor­teil. Die KI denkt nicht selbst, sie ist ein Werk­zeug in den Hän­den in­for­mier­ter Men­schen.

Zu­rück zu Dag­mar. Sie ist froh über ih­ren Aus­wahl­pro­zess per Hand. Und das ist buch­stäb­lich ge­meint. Es sind auch drei hand­ge­schrie­be­ne Le­bens­läu­fe im Sta­pel bzw. im Mail­post­fach (als Fo­to­da­tei), zwei da­von sind her­vor­ra­gend, ei­ne die­ser Personen ist es dann auch ge­wor­den.

Tipp von Dag­mar: Den In­halt des hand­ge­schrie­be­nen Ma­te­rials im­mer auch in ma­schi­nen­ge­schrie­be­ner Fas­sung mit­sen­den — und das am oberen Blatt­rand auch deut­lich ma­chen. Wer weiß denn schon, was die Ma­schi­ne im Ein­zel­fall heu­te leis­tet.

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Fo­to: C.E.

2 Kommentare:

Petra hat gesagt…

Huhu, die Ferien sind bei uns dieses Jahr wieder analog zu Berlin, an Lilis Schule waren grad Abiprüfungen! LG, Petra

caro_berlin hat gesagt…

Ach so, liebe Petra! Danke für die Erklärung. Grüße, auch an Euren Sohn ... und über Eck an die Lütte! :-D
Herzlich, C