Freitag, 18. Oktober 2024

Jahrhundert der Unwetter

Rück­blick: Im Ahr­tal sind 2021 in­ner­halb kür­zes­ter Zeit zwi­schen 100 und 160 Li­ter vom Him­mel ge­kom­men. In man­chen Re­gio­nen Frank­reichs hat es in den letz­ten Ta­gen mehr als das Fünf­fa­che ge­reg­net. Das ent­spricht der Jah­res­men­ge man­cher deut­scher Ge­mein­den.

Hier be­rich­tet eine Sprach­ar­bei­te­rin über ih­ren Be­rufs­all­tag. Als Dol­met­scher und Dol­met­scher­in­nen schlüp­fen wir im­mer wie­der ge­dan­k­lich in die Schu­he un­se­rer Kun­din­nen und Kun­den, dür­fen im Vor­feld ver­ste­hen, was sie um­treibt, wie sie den­ken, um sie an­schlie­ßend mög­lichst gut in der an­de­ren Spra­che ver­to­nen zu kön­nen. Da­raus ent­stehe eine Nä­he, die nur eine ver­meint­li­che sol­che ist, ei­nen aber nicht von jetzt auf gleich wie­der los­lässt.

Hoch­was­ser in Neu­wied, 1920, Men­schen fah­ren auf ei­nem Boot durch die Stra­ße
Hoch­was­ser in Neu­wied (1920)
In die­ser Sai­son durf­te ich un­ter an­de­rem für Ma­rie 
dol­met­schen, eine sport­li­che, ele­gan­te Mitt­fünf­zi­ge­rin mit Pfef­fer-und-Salz-Kurz­haar­fri­sur. Stolz hat sie mir beim Mit­tag­essen auf dem Han­dy die Fo­tos von zwei fast er­wach­se­nen Kin­dern, ih­rem Mann und der strup­pi­gen Dog­ge ge­zeigt. Der Sohn be­rei­te sich ge­ra­de dar­auf vor, vom Va­ter den Hof zu über­neh­men, auf dem schon Groß­va­ter und Ur­groß­va­ter tä­tig wa­ren, er­zählt sie stolz.

Ma­rie kam mit ei­ner Han­dels­de­le­ga­ti­on aus Frank­reich nach Ber­lin, es ging um ein ganz an­de­res The­ma als Land­wirt­schaft, denn sie fängt mit ihrer Fest­an­stel­lung in der Re­gio­nal­ver­wal­tung be­reits die Aufs und Abs des Fa­mi­lien­ein­kom­mens ab. Sie hilft nur ge­le­gent­lich im Hof aus.

Irgend­wann kom­men wir auf die Kli­ma­ka­ta­stro­phe zu spre­chen und auf die Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels auf Bio­di­ver­si­tät und Na­tur  — ein The­ma, das in die­sen Zei­ten im­mer drän­gen­der wird. Ma­rie wird plötz­lich still. Ihr Mann hat erst letz­tes Jahr Vieh ver­lo­ren, das plötz­lich auf of­fe­ner Wei­de er­sof­fen war.

Und wie das manch­mal so ist, spre­chen wir auch über die Re­no­vie­rung al­ter Ge­bäu­de, die Wei­ter­ga­be von kul­tu­rel­lem Er­be, und ehe ich's mich ver­se­he sind wir auf ei­ner die­sen "so­zia­len Netz­werk­sei­ten", wie Face­book, In­sta­gram und Co. ge­nannt wer­den, als Freun­din­nen ver­bun­den.

Gestern Abend zeigt sie mir von dort er­schre­cken­de Bil­der von Wei­den un­ter Was­ser, von ei­nem rei­ßen­den Strom, der quer über den Hof führt und der das Aus­trag­häus­chen, das sie ge­ra­de ne­ben­bei re­no­viert, in sei­ner Stand­fes­tig­keit be­droht. Au­ßer­ge­wöhn­li­che Re­gen­fäl­le ha­ben ges­tern den mitt­le­ren Os­ten, den Süd­os­ten und an­gren­zen­de Ge­bie­te des Lan­des heim­ge­sucht. In den Me­di­en sehe ich Bil­der von dra­ma­ti­schen Ret­tungs­ak­ti­o­nen, wie mehr als tau­send Men­schen mit Hub­schrau­bern in Si­cher­heit ge­bracht wer­den.

Die ex­tre­me Wet­ter­la­ge in Frank­reich hat sich über Stun­den ver­schärft.

In man­chen Ge­bie­ten der Ar­dè­che fal­len stel­len­wei­se bis zu 700 Li­ter Re­gen. An so viel Was­ser in kur­zer Zeit kann sich dort kei­ne Mensch­en­see­le er­in­nern. Feu­er­wehr und Ret­tungs­diens­te sind rund um die Uhr im Ein­satz, vie­le Stra­ßen, Zug­li­ni­en und Au­to­bah­nen wer­den ge­sperrt, Be­woh­ner flie­hen vor ei­nem dro­hen­den Deich­bruch. Auch in der Haupt­stadt reg­net es mehr als sonst. In Pa­ris stürzt ein Baum auf ei­ne Fa­mi­lie, wo­bei der Va­ter ums Le­ben kommt.

Die Mi­nis­te­rin für öko­lo­gi­schen Wan­del, Ag­nès Pan­nier-Ru­na­cher, nann­te die Si­tu­a­ti­on als "von ei­ner Ge­walt, wie wir das noch nicht er­lebt ha­ben", und stuft das Hoch­was­ser­er­eig­nis als Na­tur­ka­ta­stro­phe ein. Öf­fent­lich ver­weist sie auf die Kli­ma­er­wär­mung als Ur­sa­che und un­ter­streicht, wie sehr An­stren­gun­gen al­ler eu­ro­pä­i­scher Län­der nö­tig sind, um sol­chen Kli­ma­kri­sen in Zu­kunft bes­ser zu be­geg­nen.

Denn die öko­no­mi­schen Schä­den sol­cher Ex­trem­wet­ter­er­eig­nis­se sind im­mens, und sie wer­den in den kom­men­den Jah­ren wei­ter zu­neh­men. Die Fra­ge, wer für die ent­ste­hen­den Schä­den auf­kom­men wird, stellt sich im­mer drin­gen­der, ins­be­son­de­re bei der an­ste­hen­den Kli­ma­kon­fe­renz in Aser­bai­dschan. Är­me­re Län­der for­dern ver­stärkt Un­ter­stüt­zung von den In­dus­trie­staa­ten ein, die in den letz­ten 1,5 Jahr­hun­der­ten ei­nen Groß­teil der glo­ba­len Treib­haus­gas­emis­sio­nen ver­ur­sacht ha­ben.

Da­bei wird der Fi­nanz­be­darf auf bis zu ei­ner Bil­li­on Dol­lar pro Jahr ge­schätzt, um den glo­ba­len Über­gang zu ei­ner kli­ma­neu­tra­len Welt­wirt­schaft zu fi­nan­zie­ren und gleich­zei­tig die von ex­trem­en Wet­ter­er­eig­nis­sen be­trof­fe­nen Län­der zu un­ter­stüt­zen.

Zu­rück zu Ma­rie, der Bau­ers­frau aus Frank­reich. Ihr Sohn ist bei der frei­wil­li­gen Feu­er­wehr en­ga­giert und ist der­zeit ak­tiv an der Ret­tung be­tei­ligt. Er ha­be sich jetzt ent­schie­den, den Hof der Fa­mi­lie doch nicht zu über­neh­men. Er möch­te im Be­reich der Um­welt­bil­dung ar­bei­ten, schreibt sie mir, die ak­tu­el­le Not­la­ge ha­be den Ent­schluss nur be­schleu­nigt. Ob Ma­rie das klei­ne Aus­trag­häus­chen, tra­di­tio­nell das Haus für das Alt­bau­ern­paar, ret­ten kann und re­no­vie­ren wird, ist un­klar.

Auch in Deutsch­land spricht der Ern­te­be­richt Bän­de: Link zum BMEL. Noch ist die Ver­sor­gungs­si­cher­heit nicht di­rekt be­trof­fen.

Und hier noch ein wich­ti­ger Link: "Er­der­wär­mung und Wet­ter­ex­tre­me: Die wich­tigs­ten Da­ten und Zu­sam­men­hän­ge" von Ste­fan Rahms­torf, Fach­ge­spräch "Be­völ­ke­rungs­schutz bei Wet­ter­ex­tre­men" am 7. Ok­to­ber 2024 im Paul-Lö­be-Haus des Deut­schen Bun­des­tags."

Er­gän­zung durch ChatGPT: Wirt­schafts­wis­sen­schaft­le­rinn­en und Wis­sen­schaft­ler der OCDE (or­ga­ni­sa­ti­on für öko­no­mi­sche Ko­o­pe­ra­ti­on und Ent­wick­lung) sehen die La­ge in den Eu­ro­pä­i­schen Land­wirt­schafts­re­gio­nen be­reits als ein Prob­lem für die Nah­rungs­mit­tel­si­cher­heit.

Vo­ka­bel­no­ti­zen (vom Zei­tung­le­sen heu­te)
la crue — das Hoch­was­ser
plu­vio­mé­trie moyenne — mitt­le­re Nie­der­schlags­men­ge
pluies cévenol­les — Ce­ven­nen­re­gen be­trifft vor al­lem die Ce­ven­nen und das Ce­ven­nen­vor­land in Süd­frank­reich und führt oft zu schwe­ren Über­schwem­mun­gen.

Grund­sätz­lich wird in Frank­reich der Nie­der­schlag in der Hö­he ei­ner ge­dach­ten Was­ser­säu­le in Mil­li­me­tern wie­der­ge­ge­ben, in Deutsch­land do­mi­niert die An­ga­be "Re­gen­li­ter pro Qua­drat­me­ter". Da­bei ent­spricht ein Mil­li­me­ter Nie­der­schlags­hö­he im Re­gen­mes­ser ei­nem Li­ter Re­gen pro Qua­drat­me­ter. Der Be­trach­tungs­zeit­raum liegt, so­fern nichts an­de­res an­ge­ge­ben, bei 24 Stun­den.

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Il­lus­tra­ti­on: W. Lang, Wi­ki­com­mons

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