Dienstag, 16. Januar 2024

Marodierend in Berlin

Wie Über­set­zer:in­nen und Dol­met­scher:in­nen ar­bei­ten, er­fah­ren Sie auf die­sen Sei­ten. Ich bin Teil ei­nes in­ter­na­tio­na­len Netz­werks, die Bü­ro­kol­le­gin über­setzt ins Eng­li­sche. Für uns Sprach­men­schen ist es im­mer wich­tig, die ak­tu­el­le La­ge im Au­ge zu be­hal­ten.

Schnee­re­gen in der Nacht plus mi­ni­ma­ler Tem­pe­ra­tur­ab­fall ha­ben gan­ze Ar­beit ge­lei­stet: Sechs Zen­ti­me­ter Neu­schnee auf stre­cken­wei­se ver­ei­sten Bö­den kön­nen bö­se ins Auge ge­hen.

Tische, Stühle, Sonnenschirme, ohne Schnee und mit
Ein Brücken­kopf im Nor­den Neu­köllns
Da­bei scheint sich Ber­lin ech­ten Win­ter fast ab­ge­wöhnt zu ha­ben. Vor mei­nem Haus eilt die Be­sat­zung ei­nes Ret­tungs­wa­gens ei­nem Arm­bruch zu Hil­fe.

Nor­ma­ler­wei­se ken­nen wir An­rai­ner:innen vom Ka­nal das: An den Brü­cken­köp­fen müs­sen wir im­mer be­son­ders auf­pas­sen, weil die ver­än­der­ten Luft­strö­me dort al­les ex­tra aus­küh­len. Be­son­ders schlimm ist das Wet­ter für die Ob­dach­lo­sen, für die eine en­ga­gier­te Nach­ba­rin un­weit ei­ner Brücke eine Art Nah­rungs­mit­tel­stütz­punkt und Tref­fpunkt un­ter­hält (den re­gel­mä­ßig das Or­d­nungs­amt ab­räumt).  Nach­bar:innen brin­gen vor Fern­rei­sen über­schüs­­si­ge Le­bens­mit­tel dort­hin, an­de­re kau­­fen ab und zu et­was mehr ein: Bröt­chen, Ba­na­nen oder Oran­gen.

Lebens­mit­tel­stütz­punk­te

Es soll in­zwi­schen meh­re­re Stel­len wie die­se in Ber­lin ge­ben, man­che mit ei­nem kon­­fes­sio­nel­len Hin­ter­grund, an­de­re mit ei­nem hu­ma­nis­ti­schen.

Und ja, an Ter­mi­nen wie Weih­nach­ten kom­men auch Nach­bar:in­nen auf die Idee, et­was zu ko­chen und hin­zu­brin­gen, das er­wei­tert sich jetzt auch auf an­de­re Mo­men­te im Jahr. Auch mein rie­si­ger Fa­mi­li­en­sup­pen­koch­topf wurde (in Zu­sam­men­hang mit un­ver­käuf­li­chen Über­schüs­sen aus dem Bio­seg­ment) schon wie­der­holt ein­be­zo­gen. (Der­zeit un­ter­bro­chen, weil ei­ner der Be­güns­tig­ten in ei­ner Psy­cho­se lei­der das gro­ße Trans­port­ge­schirr samt Kel­len in den Ka­nal ge­schmis­sen hat.)

Hil­fe in der Not

Zelt im Schnee am Ufer
Hier leben zwei Osteuropäer
Oft fah­ren an­de­re Hel­fen­de von Ort zu Ort, ver­tei­len Es­sen und Klei­dung, Iso­mat­ten und Schlaf­säcke — oder sie bie­ten ei­nen Platz in der Not­über­nach­tung an. Auf Fran­zö­sisch hei­ßen sol­che Hilfs­tou­ren la ma­raude, aus­ge­spro­chen, als wür­den wir es auf Deutsch Ma-Roh­d' schrei­ben. Was da­rin als Be­griff steckt wird klar, wenn wir uns beim lau­ten Le­sen ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass "au" auf Fran­zö­sisch wie das deut­sche "o" klingt: Wir er­ken­nen das Wort 'ma­ro­die­ren' wie­der.

Span­nend, die­ser se­man­ti­sche Switch von der ma­ro­die­ren­den Meu­te, die plün­dert und zer­stört, hin zur den ma­rau­des so­cia­les / ma­rau­des ali­men­taires in Städ­ten wie Pa­ris, wo Hilfs­gü­ter an Be­dürf­ti­ge ver­teilt werden. Noch ein an­de­rer Link da­zu: Ob­ser­va­toi­re du par­tage.org. Die­sen Be­griff gibt es auf Deutsch nicht, die Ob­dach­lo­sen­hil­fe der deut­schen Haupt­stadt nennt das schlicht ei­ne Hilfs­tour. Dass sich Eh­ren­amtl­ich­e en­ga­gie­ren, ist in bei­den Län­dern ähn­lich. Mit dem Wort­feld ist auf Deutsch au­ßer­dem der "Käl­te­bus" ver­bun­den, der Hilfs­mit­tel bringt, im Not­fall Men­schen auch zur Not­un­ter­kunft be­glei­ten kann (mir ist noch kei­ne frz. Ent­spre­chung be­kannt).

Käl­te­bus­num­mer: am bes­ten auf­schrei­ben und ins Porte­mon­naie

Kältebus (von 20.00 bis 2.00 Uhr): 030 690 333 690, Wärmebus (18.00 bis 24.00 Uhr: 030 600 300 1010
Kältebus (von 20.00 bis 2.00 Uhr): 030 690 333 690, Wärmebus (18.00 bis 24.00 Uhr): 030 600 300 1010

Wei­ter im Wort­feld: Der clochard als Be­griff für Wohnsitz­lo­se wird im­mer mehr ins Feld eines ro­man­tisie­ren­den Nar­ra­tivs ver­wie­sen, das mit der Wirk­lich­keit nicht viel ge­mein hat. Neu­tra­ler ist le/la SDF  sans do­­mi­­ci­le fixe  Ob­dach­lo­se, r.

Im Hintergrund das Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz, im Vordergrund ein Mann, in einen Teppich gehüllt
Immer mehr psychisch Kranke sind obdachlos
Vor 13 Mo­na­ten habe ich be­reits über das The­ma ge­schrie­ben: Wärme- und Käl­te­ge­dan­ken. Da­mals habe ich auch "hou­sing first" be­schrie­ben, die zen­tra­le For­de­rung der Wohn­raum­ver­sor­gung für Ob­dach­lo­se und zu­gleich ein be­währ­tes Ak­ti­ons­konzept.

Die­se The­men ha­ben mich als Dol­met­sche­rin schon be­schäf­tigt, als ich mit fran­zö­si­schen Ver­tre­ter:innen der auf­su­chen­den So­zi­al­ar­beit in Neu­kölln un­ter­wegs war. Sie be­tref­fen mich auch als Mensch. Ich fin­de es ein him­mel­schrei­en­des Dra­ma, das so vie­le Men­schen, von de­nen vie­le psy­chisch krank sind, sich selbst über­las­sen wer­den.

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Fotos: C.E., #Flokatimann vom #Hermannplatz

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