Donnerstag, 9. Februar 2017

Berlinalerechnen

Bonjour and hello! Sie haben die Seiten eines Berliner Blogs angesteuert (oder die Postings abonniert). Hier schreibt eine Dolmetscherin ... über Sprache und den Arbeits­all­tag. Die Berlinale wirft dieses Jahr komische Schatten voraus.

Heute Abend geht's los. Die ersten Gespräche waren schon gestern, schön im Hin­ter­grund, hier geht's um künftige Filme. Jetzt kommt der Bericht über einen Fall, der absurd ist, aber leider einen Trend anzeigt, der dringend kritisiert gehört, weil er die Qualität der Ergebnisse weiter stark gefährdet.

Interviews im Hotel-Séparé
Anfrage einer eingeführten Me­dien­pres­se­agentur: Eine Stunde lang das Interview mit ein­em französischen Star dol­met­schen an demunddem Tag, ob ich Lust hätte?

Lust habe ich schon, aber noch ehe ich meinen Preis sagen kann, bietet mir die Agen­tur­da­me 50 Euro an (in Worten: fünfzig).
Dann entsteht eine Pause.

Zum Glück breche ich kurz darauf in schallendes Gelächter aus. Ich hätte auch zutiefst er­schüt­tert sein können. Ich frage sie, wie lange sie ihren Job schon mache. "Acht Jahre", lautet die Antwort.

Unerfahrenheit kann es also nicht sein. Ich rechne vor:

  90 Minuten Filmdauer, zu sehen am Vorabend im Kino
  60 Minuten Vorbereitung, Recherche und Ausdruck von Hintergrundmaterial
120 Minuten An- und Abreise an zwei Tagen, im Zug lese ich weiter
  60 Minuten Zeitpuffer (bei der BVG ist nur Verlass darauf, dass kein Verlass ist)
  60 Minuten Interview
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390 Minuten = 6,5 Stunden.

50 Euro / 6,5 Stunden = 7,69 Euro pro Stunde.

Ich habe die Dame darüber informiert, dass es in Deutschland einen Mindestlohn gibt. Eine Putzhilfe kostet in Berlin ca. 13 Euro die Stunde. Und den Profi­dol­met­scher­preis genannt, 775 Euro für einen Tag ...

Dann kommt über mein Afrika-Netzwerk die Frage eines Übersetzerkollegen aus Ma­roc­co in meinen Briefkasten. Ein deutscher Motorhersteller möchte 50 Seiten tech­ni­sche Anleitung ins Französische übertragen lassen ... 500 Euro sind im Ge­spräch, der Kollege möchte sich vergewissern, ob der Preis in Ordnung sei. Den genauen Preis je Zeile, der in Deutschland für das Dokument üblich wäre, kann ich nicht nennen, ich habe es nie gesehen, weiß auch nicht, wie viele tech­ni­sche Ab­bil­dun­gen das Konvolut enthält. Aber ich schätze, der Preis dürfte auch eher beim Zehn­fa­chen liegen ... Eine solche Vertragsvergabe könnte am Ende Men­schen­le­ben in Gefahr bringen.

Zurück zur Berlinale: Dem Vernehmen nach, der "Kunde" musste mir eine Ätschi­bätschi-Mail senden, macht den Job jetzt die Praktikantin einer befreundeten Firma, die nach einem Französischabitur ein Jahr als Au Pair-Girl in Paris war. Die Leute wollen's nicht kapieren!

Wechseln wir den Bereich: Ein Kilogramm zartes Rinderfilet vom Wagyu-Rind kostet 150 € oder mehr. Dazu Spargel von der anderen Seite der Welt, feinstes, ar­beits­in­ten­si­ves Kartoffelgratin, Kaviar vorab und ... ich glaube, Sie wissen, was ich mei­ne. Und das Ganze dann in billigstem Öl braten und anrichten, das heiß ge­presst, un­­kon­­trol­­liert eingeführt worden ist und möglicherweise nicht ganz sauber ... Dieser Essensvergleich dürfte Dieter Kosslick gefallen. Ob er weiß, dass wir freien Spracharbeiter keine Akkreditierung mehr bekommen?
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Foto: C.E. (Archiv)

2 Kommentare:

caro_berlin hat gesagt…

Für zwei vergleichbare Einsätze wurden mir gestern und heute 100 bzw. 150 bis maximal 200 Euro angeboten. Verhandeln unmöglich.

Bei 5 1/2 Stunden Arbeit komme ich auf einen Stundensatz von maximal 36,36 € ...

Investment, das dem entgegensteht: sieben Jahre Studium, mehr als 15 Jahre einschlägige Erfahrung.

Und ja, ich kann es mir vorstellen, dass ungeplante Ausgaben auf einen zukommen. Aber das ist streng genommen das Risiko des Unternehmers und Auftraggebers, nicht das der Dienstleister. Und Freundschaftpreise gewähre ich gerne Menschen, die ... meine Freunde sind.

Th. hat gesagt…

Liebe Caroline,

die haben sie ja wohl nicht alle! Aber dreh die Sache mal um: Nutz die Gelegenheit, wie Du sie ja auch vorher schon genutzt hast, als es mit dem Film- und Mediendolmetschen weniger wurde und Du Dir dann einen Namen im Bereich Politik und Wirtschaft gemacht hast.

Verarbeite das Thema journalistisch und wechsele dann die Seite der Glasscheibe Eurer Dolmetscherkabine ... Du hast genug Stoffe und Talent noch dazu. Und Du weißt auch, wie man das in Sachen Kommunkation aufzieht.

Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf Deine künstlerischen Projekte, die folgen werden!

Gruß vom "Konstanzer Meer". Ich soll auch von Bodo grüßen, ich sag nur Baustelle Bernauer Straße.

CU,
Th.