Babylon-Mitte |
Ein älterer Regisseur aus der "ehemaligen Ex-DDR" bei einem Filmgespräch in einer Off-Vorführung. Er nennt sich selbst eine "Runzelfresse".
Er spricht sehr wenig Englisch, weswegen ich später im Foyer kurz für ihn dolmetsche. Hätte das Gespräch auf Englisch stattgefunden, wäre die Radikalität seiner Selbstbetrachtung, aus der sich die zweite Hälfte der Diskussion gespeist hat, nicht zum Ausdruck gelangt.
Wie hätte ich das übertragen, wenn ich als Dolmetscherin dabei gewesen wäre (irgendwo in Frankreich)? Mit Nils Aguilar, dem man am Namen nicht anhört, dass Französisch seine Muttersprache ist, einige ich mich später auf gueule fripée.
Jan, Praktikant der Saalleitung in einer Berlinale-Nebensektion, über den ersten Abend: "500 Menschen kommen mit Tickets ins Kino, Kaufkarten und Tickets über die Fachbesucher- und Presseakkreditierungen. 100 Plätze haben wir für Buyer und Jury reserviert. Soweit Platz verfügbar ist, lassen wir kurz vor Filmstart noch weitere Journalisten und Fachbesucher rein. Von diesen 100 waren etwa die Hälfte englischsprachig. Die Diskussion fand auch auf Englisch statt. Drei Menschen haben Fragen gestellt, von denen zwei sehr flüssig Englisch gesprochen haben, die haben international versiert geklungen, außerdem eine deutsche Person, die auch auf Englisch gefragt hat."
Und weiter: "Die Fragen fand ich alle ziemlich flach. Drei Fragen sind super wenig, obwohl der Film welche aufgeworfen hat. Ich habe mir überlegt, was ich gefragt hätte. Dabei fiel mir auf, dass ich das auf Englisch nicht gekonnt hätte. — Wir haben einen syrischen Refugee im Team, der sehr gut Englisch spricht, mit ihm quatschen wir zwischendurch viel, das macht Spaß."
Elsa, eine amerikanische Filmproduzentin, die schon lange in Berlin lebt, kommentiert süffisant ihre Spracherlebnisse in der nicht mehr ganz so neuen Heimat: "In Mitte antworten alle immer gleich auf Englisch, wenn sie meinen Akzent hören. Da kann ich mich überhaupt nicht mehr auf Deutsch unterhalten. Ich mag die deutsche Sprache, die englische auch, aber komisch ist es schon. Alle müssen immer gleich beweisen, wie weltläufig sie sind."
Iacovos, ein griechischer Journalist, findet es großartig, dass die Berlinale alles auch auf Englisch anbietet. Ich hake nach. "Auch" auf Englisch? Im Wettbewerb, aus dem er gerade kommt, spielt auch Deutsch noch eine gewisse Rolle. Aber es stimme, woanders sei Deutsch nicht mehr vorhanden. Er habe gerade den Film "Django" gesehen, über den berühmten Musiker und Komponisten Django Reinhardt, in Frankreich geborener Sinto. Der Film, die Kritik dazu bei critic.de, spiele zum Teil in der deutschen Besatzungszeit. Er habe es komisch gefunden, dass ein festliches Ereignis in der deutschen Hauptstadt mit einem Film aufgemacht werde, in dem Deutsche die Bösen seien, die z.B. ein Sintilager mit Flammenwerfer niederbrennen würden. Würden sich die Deutschen gerne so sehen?
Der Journalist, der seit neun Jahren zur Berlinale kommt, meint, dass den Deutschen der Film unmöglich gefallen könne. Ich erkläre ihm die Sache mit der Vergangenheit, die nicht vergehen will, den selbstkritischen Umgang der Deutschen in den letzten Jahrzehnten ... nach Jahrzehnten der Verdrängung. Wir verabreden uns auf ein längeres Gespräch.
Die Frau eines Theater- und Filmkritikers, ihren Vornamen werde ich nachtragen, hält die Abschaffung der deutschen Sprache für schiere Selbstverleugnung. "Die Deutschen und die Spätfolgen des 'Dritten Reichs'", sagt sie und verdreht dabei die Augen. "Englisch-Muttersprachler haben damit überall einen Sprachvorteil, das ist ein hochpolitisches Thema, denn Sprache ist Macht."
In der U-Bahn hängt unter der Decke ein kleiner Monitor, dort wirbt die BZ: "Berlinale eröffnet! Hollywood ist zurück in Berlin." Das Ausbluten des deutschen Kulturbetriebs in den braunen Jahren einschließlich der Filmproduktion ist noch heute zu spüren. Talente, die Talente heranziehen, die wiederum ... ergibt zu viele Menschen, die heute fehlen. Die Wahrnehmung der Berlinale durch die Boulevardpresse spricht da Bände.
Dann höre ich, wie Passagiere von Mitreisenden mitten in der Nacht auf Englisch wissen möchten, ob ein Platz verfügbar sei. Nicht erst auf Deutsch, sondern gleich auf Englisch. Weder Sprecher noch Angesprochene sahen irgendwie fremd aus.
Die Frage der kulturellen Identität, der mangelnden Pflege auch eines positiver besetzten historischen Bewusstseins, die deutsche Geschichte lässt sich nicht auf die Nazizeit reduzieren, wird derzeit nur von rechtsextremer Seite gestellt. Links, in einfachen Milieus und in der bürgerlichen Mitte dominiert das Schweigen. Warum eigentlich sollten wir den AfDlern und "Identitären" dieses Feld überlassen?
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Foto: C.E. (zum geringsten Teil der Ort
des beschriebenen Geschehens)
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