Mittwoch, 15. Februar 2017

Berlinalewohnen

Im zehnten Jahr führe ich hier mein öffentliches Arbeitstagebuch als Dol­met­scherin und Über­setzerin. Als frei­be­ruf­li­che Sprach­mitt­lerin ar­bei­te ich in Paris, Berlin, Heidelberg und Marseille — und (fast) überall dort, wo Sie mich brauchen.­

Gerade klinge ich älter als meine "Omma" aus Unna, denn die hat sowas nie ge­sagt. Oder klinge ich ähnlich jung wie das Käthchen von Schluppen­burg, die einst mit gerade mal acht Lenzen, du haut de ses huit ans, gerne ihre Frau Groß­ma­ma nach­ge­macht hat, und das auch noch in bestem Bayrisch: Frrrühah, ja, frrrühah, da woa ois bessah! (Gerne folgte darauf eine Einlage rustikalen Schenkelklopfens.)

Hände, zwei Computer, ein Tablet, Wassergläser, Teebecher, Pfeffermühle, Salz, Kerze, Vitamine, Visitenkarten, Stühle (angeschnitten), Kataloge auf Bank und Boden
Vogel- oder Küchenlampenperspektive
Noch nie hatte ich bei ei­ner Ber­li­nale so viele Ver­gan­gen­heits­be­züge wie dieses Mal. Das liegt an den vielen Ver­än­de­run­gen, die mir plötzlich ins Auge stechen, denn so ein Zehn­jäh­riges ver­lei­tet na­tür­lich zum Bi­lanz­zie­hen. Man­ches, das seit Jahren schon anders ist, fällt erst jetzt auf, siehe frühere Posts. Und ich bin's leid, Verschlech­terungen fest­stel­len zu müssen.

Denn auch schöne Konstanten gibt es in diesen Jahren. Die Berlinale-WG ist eine davon. In Zeiten, in denen ich 30 bis 50 Einsätze pro Filmfestival hatte, war ich abends ein­fach durch. Extreme Müdigkeit wirkt sich auf den Bewusstseins­zu­stand wie Al­ko­hol­kon­sum aus, also war es der Job der Mitbewohner von Rhein und Ruhr, mich vom letzten "Gig" abzuholen und heil wie­der nach Hause zu ge­lei­ten. Au­ßer­dem erfuhr ich von ihnen, was ich in der Einsamkeit der Dol­met­scher­ka­bi­ne sonst nicht erfahren hätte: Wer, was, wie, wo, warum und wann.

Jetzt, wo die Berlinaleleitung auf Globish setzt und sehr viele Dolmetscher nichts mehr zu tun haben, ist meine Berlinale weitaus entspannter: Es gibt weniger Ein­sätze, die dafür besser bezahlt werden. (Wo es drauf ankommt, ist plötzlich wie­der Geld da.) Der nächt­li­che Escort-Service entfällt damit.

Nach dem Nachhausekommen, jeder disponiert selbst, sitzen wir nachts meist noch in unseren WG-ei­ge­nen Programmkonferenz zusammen, die Abteilungen und Fachrichtungen Filmton, -mi­schung, Aus­bil­dung, Jazz, Fes­ti­val­lei­tung, Programm­ma­nagement, Saalleitung, Sprache (und zunehmend auch Dramaturgie), IT und stra­te­gi­sche Planung, Ver­zah­nung von Geistes- zu Natur­wissen­schaften. Viele Ge­wer­ke und Gebiete, dabei sind wir nur zu viert, gendermäßig einigermaßen pa­ri­tä­tisch besetzt — und ge­ne­ra­tio­nen­über­grei­fend so­wie­so, denn zwischen dem Jüngsten und dem Ältesten liegen vier Jahrzehnte.

In der zweiten Berlinalehälfte wird es ruhiger. Die Kölner Tonkollegin ist schon wie­der abgereist, Moonboots und "Plümmoh", wie sie ihre daunengefüllte Jacke freund­lich nennt, sind am frühlings­haften Rhein, wo es dem Vernehmen nach heu­te 16° C. warm war, wieder im Schrank verstaut. Auch in Berlin ist der Frühling schon zu spüren. Der Winter (und auch die Zukunft) waren früher auch besser! (Danke, Karl Valentin.) So, ab mit mir ins Kino!

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Foto: C.E.

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