Sonntag, 19. Februar 2017

Berlinaleabschied

Im elften Jahr führe ich hier mein öffentliches Arbeitstagebuch als Dol­met­scherin und Über­setzerin. Als frei­be­ruf­li­che Sprach­mitt­lerin ar­bei­te ich in Paris, Berlin, Heidelberg und Marseille — und (fast) überall dort, wo Sie mich brauchen.­

Blick zurück und nach vorn
Heute ging nach zehn Tagen ein berühmtes Festival zu En­de: Das Literaturfestival von Havanna. Heute ging auch die Berlinale zu Ende. Festival und Markt haben zusammen um die 600 Filme prä­sen­tiert. Wie lässt sich bei so vielen Filmen ein Trend beobachten? Gar nicht. Ich den­ke, dass die Ber­li­na­le zu groß und zu be­lie­big ge­wor­den ist. Ein Vier­tel weniger Filme wäre immer noch nicht zu "schaf­­fen", aber dann wür­de hof­fent­lich wie­der mehr auf Qua­li­tät ge­setzt werden.

Der Andrang an den Kassen war groß, ent­spre­chen­de TV-Bil­der flimmerten in alle Haushalte. Oft saß aber nicht nur ich in halbleeren oder deut­lich spär­li­cher ge­füllten Sälen. Derzeit ist es in vielen Kreisen noch Mode, zum internationalen Film­fes­ti­val in Ber­lin zu gehen, und das bezieht sich vor allem auf den Wettbewerb und exklusive Veranstaltungen wie das "Kulinarische Kino". Wer Erfolg hat, sollte sich immer kritisch überlegen, wie es dazu kommt und womit er oder sie sich mög­li­cher­wei­se gerade selbst ein Bein stellt. Denn dass Moden kommen, Moden gehen, weiß jedes Kind.

Neben der Filmauswahl (Vorgehen, Kriterien, Wahl der Sektion) wären wesentliche kuratorische Entscheidungen der Präsentation zu überdenken. Ich spreche von Deutsch als Bühnensprache bei den Publikumsgesprächen (auf Neudeutsch QnA). Derzeit wird dort überwiegend Englisch gesprochen, das aber sehr häufig eher Globish ist. Der internationale Charakter könnte durch Dolmetschkabinen für die englische Sprache in den Kinosälen gewahrt werden. Dann wäre die Zu­sam­men­ar­beit mit einem Technikanbieter passend, der auf leichte Empfänger setzt sowie auf die Nutzung des eigenen Mobiltelefons als Empfangsgerät (via App). In-Ear-Kopf­hö­rer können gegen eine kleine Gebühr abgegeben werden.

Dolmetscher, die im Rahmen der Berlinale arbeiten, müssten nach objektiven Kri­te­rien von unabhängigen Personen ausgewählt werden. Die Bezahlung schwankt derzeit von Sektion zu Sektion, das hat historische Gründe. Das Ergebnis ist un­ge­recht, eine Besserbezahlung sollte ebenso selbstverständlich sein wie die Ak­kre­di­tie­rung auch von im Hintergrund (z.B. bei Presseinterviews) tätigen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen.

Es gibt noch mehr Bereiche, die zu verbessern wären: Die Bezahlung der anderen Kolleginnen und Kollegen bis hin zu den 450-Euro-Job-Praktikanten in der Saal­be­treu­ung, die vor einigen Jahren die Aufgaben der einst besser honorierten Vo­lon­tä­re übernommen haben. Das Entgelt für Moderation, in einer mir bekannten Sektion seit mehr als 15 Jahren unverändert, war schon zu Beginn der Nuller Jahre eher gering; heute ist es ein Fünftel weniger.

In Zeiten von Deindustrialisierung und Digitalisierung ist Mikrohalten beim Festival das, was der gewöhnliche Bergknecht unter den Montanberufen war. In Sachen berufsständischer Organisation sind die Festivalarbeiter im späten 19. Jahr­hun­dert, sie beginnen ge­ra­de, sich zu zusammenzutun. Hier folgt der Link zu "Klein Gla­mour hinter den Ku­lis­sen."

Vor allem braucht es auf vielen Entscheiderposten wieder Menschen, die "Zelluloid im Blut" haben, und ja, ich weiß, dass heute meistens digital gedreht wird, way of speaking. Ich meine Menschen mit echter Film- und Festivalliebe. Derzeit hat bei meinem großen Lieblingsfestival jedenfalls die andere Fraktion die Oberhand. Das Film­fes­ti­val braucht dabei weniger Marketinggedöns und Personenkult, dafür mehr Fach­kennt­nis­se bzw. street credibility.

Wenn keiner vor Dir sitzt, niemand neben Dir mit Fastfood raschelt und endlos auf dem leeren Colaeis rumschlürft, wenn niemand dazwischenquasselt und mit den Füßen im Aktionszyklus Dir in den Rücken boxt, wenn ... Der beste Platz ist in meinem Berlinale-Heimkino. Dieter Kosslick, epd Film 2/2017
Zuschauer und Kinobetreiber bezahlen die Sause
Nur ein Beispiel: Der Mann an der Spitze des Ber­li­ner Film­fes­ti­vals, der in Grund­kennt­nis­sen Schwab­lish spricht und perfekt Schwa­beutsch, hat nicht nur die Sprach­ent­schei­dun­gen der Berlinale gefällt, sondern bei der Er­öff­nung des Festivals auch damit ko­ket­tiert, dass er nie ins Kino ge­he, sein home cinema sei so viel angenehmer ohne die vielen anderen Zuschauer.

Die Sache war ein Selbstzitat, wie später aus dem Fachblatt epd Film hervorging.

Damit hat er sich jetzt nicht nur die Spracharbeiter zu ziemlich allerbesten Freun­den gemacht, sondern auch sämtliche Kinobetreiber und Verleiher. Eine grund­sätz­li­che Menschenphobie scheint es bei ihm nicht zu sein. Der oberste Chef, der erst Redenschreiber, dann Filmförderer war, schreitet jede Berlinale re­gel­mä­ßig über den roten Teppich und ist allabendlich Gastgeber bei eleganten Seated din­ners, die zum Beispiel der Berlinale Dining Club für eingeladene Filmteams und zah­le­nde Gäste veranstaltet, der Slogan lautet nicht „Rent a |Rita| Dieter“, sondern "Intime Dinner in exklusivem Ambiente".

Kurz: Ich könnte das Phänomen auch Pub­li­kums­ver­ach­tung nennen. Nämlicher Herr K. steht der Berlinale jetzt länger vor als ein anderer Herr K. der aktuellen Politik unseres Landes einst vorstand. Rufe nach vorfristiger Auflösung seines Vertrags, der bis 2019 läuft, werden derzeit immer lauter.

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Foto: Jan Hendrik Blanke

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