Willkommen auf den Webseiten einer Übersetzerin und
Dolmetscherin für die französische Sprache.
Hier berichte ich in loser Folge über Episoden aus meinem
Berufsalltag.
Als ich den Fahrstuhl betrete, bin ich noch sichtbar und Dame. Ein Mann lässt mir den Vortritt. Wir, das sind drei Herren und ich, befinden uns in einem sehr repräsentativen Gebäude im Herzen Berlins. Wir tragen alle Anzüge in gedeckten Farben. In der Hand halte ich den kleinen Flüsterkoffer, der wie ein Aktenkoffer aussieht (*).
Die kurze Reise soll uns bis unter das Dach führen, wo die nächsten drei Stunden eine Jahrestagung stattfinden wird. Auf der Fahrt nach oben werde ich unsichtbar. Im 2. Stock geht die Tür auf. Vor dem Fahrstuhl stehen zwei Frauen, die keine Anzugträger sind. Sie haben elegante Kittelschürzen an und transportieren kleinere Reinigungsgerätschaften (die ich nicht benennen könnte).
Einer der mitreisenden Herren sagt: "Hereinspaziert, die Damen!" Die Damenwelt im Putzfrauenkittel antwortet unisono: "Vielen Dank, die Herren!"
Wir kommen oben an. Die Tagungsleitung weist mir ein Stühlchen an, auf dem ich später hinter einem französischen Medienmann Platz nehmen soll — Wasser, Tee oder Kuchen wären damit außer Reichweite. Zum Glück hat mein Dolmetschkunde sich selbst schon einen Platz gesichert, für mich einen mit. Ja, einen "echten" Sitzplatz. (Dolmetscherkabinen sind, wenn es nur eine Person zu beflüstern gilt, nicht üblich.)
Im Raum sind an die 30 Herren mit ergrautem oder sich lichtendem Haupthaar und zunächst zwei, dann drei Damen versammelt (ich zähle als dienstleistendes Personal hier nicht mit). Die Diskussion wird eröffnet: "Meine Damen und Herren ..." Wenig später werden die "Herren der 1. Stunde gewürdigt", währenddessen servieren eine Dame und ein Herr Tee und Kaffee. In der französischen Regierung sind die Ministerposten quotiert; im deutschen Regierungsviertel gilt
gender parity, wenn's gut läuft, immerhin schon mal fürs Bedienungspersonal.

Dass ich in
pole position zum Kuchen sitze, nützt mir übrigens nicht viel. Der erste Stollen dieses Winters bleibt unberührt. Wie gesagt, drei Stunden wird die Sitzung dauern. Als Anweisung bekam ich für die Solo-Nummer den Tipp, ich müsse ja nicht jedes Detail dolmetschen und könne auch pausieren, wann immer es nötig sei.
Ich hatte 15 Minuten Pause je Zeitstunde
|ausbedungen| erbeten. Man ging davon aus, dass die Veranstaltung selbst auch kurze Unterbrechungen haben würde. Hatte sie aber nicht.
Und welche der Worte (oder Minuten) des äußerst spannenden (abgelesenen!) Vortrags samt Diskussion lasse ich jetzt weg? Ich komme gar nicht dazu, diesen Gedanken zuende zu denken.
Es gibt Themen wie Filmwirtschaft, Bildung und inzwischen auch Europapolitik (solange es nicht um Gesetzesdetails geht), die "fahre" ich per "Autopilot", die dolmetsche ich nicht aus der frisch erlernten Lexik, dem Arbeitsspeicher, hier wird die Festplatte selbst aktiv, sie ist größer, das System ist weniger störanfällig und läuft weniger schnell heiß. Kurz: Vokabeln, mit denen ich seit Jahren jongliere, machen mir keine Angst mehr. Mein Dolmetschkunde, den ich seit 1991 kenne, auch nicht. Ich setze mich also möglicherweise etwas undamenhaft entspannt hin, schalte das Mobiltelefon und mein Ego aus und rede. (Danke, meine Herren, dass keiner zum Fotohandy griff!)
Nur einmal kommt Stress auf. Es ist der Moment, als die Herrschaften neben uns wie Schulbuben zu schwätzen anfangen. Sorry für meine Beschreibung und dafür, dass ich es hier vielleicht ein wenig an Respekt mangeln lasse, aber durch sowas wird es schwierig bis unmöglich, das Saalende zu verstehen und gleichzeitig zu sprechen. Zum Glück hatte ich ja Kopfhörer und Mikrofon dabei, den Flüsterkoffer, so dass ich der Störquelle ausweichen konnte. Hm, vielleicht hat ja mein Dauerflüstern die Jungs auch angeregt?
Abgesehen von der Müdigkeit, die mich morgen ereilen wird, weisen lange Solotermine noch einen gravierenden Unterschied auf. Normalerweise konzentrieren wir uns beim Sprechen auch auf die Schönheit der Worte. Wir sprechen einen Satz, der in der Luft hängt, durchaus schon mal zuende, verknüpfen lose Enden, bauen gelegentlich eine kleine rhetorische Schleife ein mit der Wiederholung eines Kernbegriffs, wenn es der Verständlichkeit hilft. Ich vergleiche das immer mit den Zierkappen eines Autoreifens. Die fahrbaren Untersätze rollen auch so, mit Zierkappen ist's aber schöner.
Bin ich alleine im langen Einsatz, haushalte ich mit der Energie und beschränke die Aufhübschungsmaßnahmen auf ein Minimum. Das Ergebnis klingt weniger druckreif. Gerade die deutsche Grammatik bietet in ihrer Komplexität und mit dem Verb am Ende viele Möglichkeiten, Sätze ins Endlose zu mäandern, um den Abgrund wenigstens zart anzudeuten.
Als sich dann der einzige nicht mehr aktive Politiker Deutschlands, der in geschlossenen Räumen öffentlich rauchen darf, eine Zigarette ansteckt, bin ich ihm dankbar dafür, dass dies erst nach etwa anderthalb Stunden geschah. Viel Rücksicht, einer Dame gegenüber! Vielleicht war ich doch nicht unsichtbar.
Vokabelnotizen:
Aktenkoffer —
attaché case auf "Franglais", das deutsche Wort musste ich nach dem Marathon nachschlagen.
Zier- oder Schmuckkappe —
enjoliveur oder
chapeau de roue
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Fotos: C.E.