Samstag, 16. November 2013

Mikro-Gau

Bonjour ! Zu­fäl­lig oder ab­sicht­lich haben Sie mei­n vir­­tu­­el­­les Ar­beits­­ta­­ge­­buch an­ge­steuert. Ich ar­bei­te in Hamburg, Straßburg, Berlin, Paris und dort, wo mich Kunden brauchen, als Sprach­mitt­lerin mit den Fach­ge­bie­ten Wirtschaft, Politik, Soziales und Kultur. Es ist Samstag, Zeit für den Link der Woche.

Wir Dolmetscher sind unsichtbar, ich schrieb erst Donnerstag darüber. Wir Dol­met­scher haben bei der Arbeit natürlich auch keine eigene Meinung. Und wir Dol­met­scher sprechen nur dann, wenn jene, die wir vertonen, auch sprechen.

Soviel zur Theorie. Ja, es stimmt, wir sind Dienst­leister und damit nichts als Dienstleister; was wir denken, lassen wir ebe­nso brav zu Hause wie Saaldiener oder Kellner es tun.

Wenn dann ein Missgeschick geschieht und eine Meinung plötzlich publik wird, ist das natürlich peinlich. (Und ich äußere mich hier nicht über Inhalte, ich bin ge­nau­so neu­tral wie das Mikrofon.) Gestern passierte einer UN-Kollegin ein Mikro-Gau. Bei der Sitzung standen zehn Resolutionen gegen Israel auf dem Programm, von denen neun auch verabschiedet wurden. Die Wahlgänge erfolgten wie immer elek­tro­nisch, vorher waren Reden zu verdolmetschen, bei der Abstimmung ergaben sich die üblichen Wartepausen.

Und so hat die Kollegin nicht bemerkt, dass ihr Mikro offen war, als sie unter Ka­bi­nen­kol­legen sagte:

I mean, I think when you have five statements, not five, like a total of ten re­so­lu­tions on Israel and Palestine, there's gotta be something, c'est un peu trop, non? I mean I know. ... There's other really bad shit happening, but no one says anything about the other stuff," ("Also ich denke, fünf Erklärungen, nein, nicht fünf, son­dern insgesamt zehn Resolutionen zu Israel und Palästina, das ist schon heftig (?), das ist vielleicht zu viel, oder? Ich meine ... ich weiß ... draußen passiert wirklich noch andere Scheiße, aber darüber sagt niemand was.")

Jene, die Kopfhörer auf den Lauschern hatten, die auf "Englisch" ge­schal­tet waren, mussten ihre Worte mit anhören. Im Saal breitete sich Zeugen zufolge peinlich berührtes Gelächter aus. Die Sitzungsleiterin reagierte cool: I understand there was a prob­lem with the interpretation? ("Wenn ich richtig verstehe, gab es ein Problem mit der Verdolmetschung?")

So ganz verstehe ich die Panne vom technischen Gesichtspunkt her allerdings nicht. Kurz vor dem launischen Kommentar aus der Kabine hatte ein spanischer Redner gesprochen. Der war offenbar von einer der Nachbarkabinen übersetzt worden und der Englischkanal müsste demnach auf die Spanischkabine ge­schal­tet worden sein. Damit die Zuhörer nicht hin- und herschalten müssen, machen wir Dolmetscher das ja, unterstützt von Technikern, die alles bewachen und im Be­darfs­fal­le Regler schie­ben.

Für die weitere Klärung des Vorfalls müsste ich jetzt wissen, in wieweit der bei YouTube gepostete Ausschnitt "montiert" ist. Ich erkläre mich: Ist die Tonspur original oder wurde da etwas geschnitten? Wurde da eventuell eine Ver­dol­met­schung gelöscht (Spanisch-O-Ton ins Englische)?

Barak Ravid meint auf dem Blog von Haaretz, die Stimme sei aus der Spanisch-Englisch-Kabine gekommen. Ich denke aber, die Sprechende und der/die An­ge­spro­che­nen (*) saßen in der Französischkabine. Wäre die Stimme aus der Spa­nisch­ka­bi­ne gekommen, hätte der Beitrag des spanischen Redners ja verdolmetscht sein müssen.

Vergessen wir, aus der Leitung "raus­zu­ge­hen", kann der Ton aus der jeweils an­de­ren, aus der gerade ins Englische ge­ar­bei­tet wird (hier logischerweise Spa­nisch) gar nicht auf dem Englischkanal ankommen. Dann haben die Zuhörer keinen Ton auf den Kopfhörern und es wird rasch unruhig im Saal ... bzw. der Techniker steht sofort in der Kabine. (Wir ken­nen das alle vom Beginn unserer Karriere oder bei extrem über­zo­ge­nen/an­strengenden Terminen.)

Was ist also hier passiert? War es nicht vielleicht eher eine Technikpanne und kein "Schaltfehler" einer enerviert kommentierenden Dolmetscherin? (Ich musste an ein altes Räuspertastenproblem denken.) Ich bin auf die Meinungen der Kol­le­gin­nen und Kollegen hier im Blog gespannt und habe noch eine Bitte an die "Eng­län­der" unter Euch: Haut die Übertragung von there's gotta be something hin?



Vokabelnotiz
YouTube beschrieb die Worte als "candid comments".
candid (engl.) — aufrichtig, unumwunden, ehrlich
candide (frz.) — naiv, arglos, unbedarft
Mehr "same words, different meanings" hier: klick!

P.S. (Nachtrag com 17.11.): Laut Jerusalem Post soll der israelische Mi­nister­prä­si­dent Netanyahu der Dolmetscherin inzwischen einen Job angeboten haben, falls sie in New York rausfliegen sollte.
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Illustration: United Nations Webcast via YouTube
(*): Bei großen Institutionen sitzen oft drei Sprach-
mittler je Sprachenpaar in der Kabine

2 Kommentare:

caro_berlin hat gesagt…

Hm, gibt es keine Einwände oder Anregungen von den Kollegen? Wie gesagt, ich möchte hier den technischen Aspekt der Chose diskutieren.

Sind wir alle so dermaßen "meinungslos"? Eintrag unter Initialen oder Pseudonym geht auch.

Gruß, CE

G. hat gesagt…

La question technique sans autre indice ne donnera lieu qu'à des suppositions probablement éloignées de la vérité. Mais puisqu'on est invité à réfléchir :

- Le blog part de l'hypothèse de cabines FR/EN et ES/EN biactives. Or, pour les trois langues "coloniales" ce n'est pas le cas en AG à ma connaissance. Seuls les ZH et AR sont coutumiers d'un retour.

- Un bouton mute défectueux ne me semble pas non plus être une hypothèse probable : On ne laisse pas un canal ouvert aussi longtemps d'habitude (ne serait-ce que par réflexe acquis de signaler aux éventuelles cabines en relais un changement d'orateur / de langue sur le floor).

- Ce qui me vient à l'esprit, c'est les consoles plus anciennes, du type Panasonic où les micros n'ont pas de colliers témoin rouges et où le seul indice de canal engagé est une LED orange discrète, loin des lumières rouges et vertes qu'on trouve sur les dernières consoles Bosch / Televic / Younameit.