Die kurze Reise soll uns bis unter das Dach führen, wo die nächsten drei Stunden eine Jahrestagung stattfinden wird. Auf der Fahrt nach oben werde ich unsichtbar. Im 2. Stock geht die Tür auf. Vor dem Fahrstuhl stehen zwei Frauen, die keine Anzugträger sind. Sie haben elegante Kittelschürzen an und transportieren kleinere Reinigungsgerätschaften (die ich nicht benennen könnte).
Einer der mitreisenden Herren sagt: "Hereinspaziert, die Damen!" Die Damenwelt im Putzfrauenkittel antwortet unisono: "Vielen Dank, die Herren!"
Wir kommen oben an. Die Tagungsleitung weist mir ein Stühlchen an, auf dem ich später hinter einem französischen Medienmann Platz nehmen soll — Wasser, Tee oder Kuchen wären damit außer Reichweite. Zum Glück hat mein Dolmetschkunde sich selbst schon einen Platz gesichert, für mich einen mit. Ja, einen "echten" Sitzplatz. (Dolmetscherkabinen sind, wenn es nur eine Person zu beflüstern gilt, nicht üblich.)
Im Raum sind an die 30 Herren mit ergrautem oder sich lichtendem Haupthaar und zunächst zwei, dann drei Damen versammelt (ich zähle als dienstleistendes Personal hier nicht mit). Die Diskussion wird eröffnet: "Meine Damen und Herren ..." Wenig später werden die "Herren der 1. Stunde gewürdigt", währenddessen servieren eine Dame und ein Herr Tee und Kaffee. In der französischen Regierung sind die Ministerposten quotiert; im deutschen Regierungsviertel gilt gender parity, wenn's gut läuft, immerhin schon mal fürs Bedienungspersonal.
Dass ich in pole position zum Kuchen sitze, nützt mir übrigens nicht viel. Der erste Stollen dieses Winters bleibt unberührt. Wie gesagt, drei Stunden wird die Sitzung dauern. Als Anweisung bekam ich für die Solo-Nummer den Tipp, ich müsse ja nicht jedes Detail dolmetschen und könne auch pausieren, wann immer es nötig sei.
Ich hatte 15 Minuten Pause je Zeitstunde
Es gibt Themen wie Filmwirtschaft, Bildung und inzwischen auch Europapolitik (solange es nicht um Gesetzesdetails geht), die "fahre" ich per "Autopilot", die dolmetsche ich nicht aus der frisch erlernten Lexik, dem Arbeitsspeicher, hier wird die Festplatte selbst aktiv, sie ist größer, das System ist weniger störanfällig und läuft weniger schnell heiß. Kurz: Vokabeln, mit denen ich seit Jahren jongliere, machen mir keine Angst mehr. Mein Dolmetschkunde, den ich seit 1991 kenne, auch nicht. Ich setze mich also möglicherweise etwas undamenhaft entspannt hin, schalte das Mobiltelefon und mein Ego aus und rede. (Danke, meine Herren, dass keiner zum Fotohandy griff!)
Nur einmal kommt Stress auf. Es ist der Moment, als die Herrschaften neben uns wie Schulbuben zu schwätzen anfangen. Sorry für meine Beschreibung und dafür, dass ich es hier vielleicht ein wenig an Respekt mangeln lasse, aber durch sowas wird es schwierig bis unmöglich, das Saalende zu verstehen und gleichzeitig zu sprechen. Zum Glück hatte ich ja Kopfhörer und Mikrofon dabei, den Flüsterkoffer, so dass ich der Störquelle ausweichen konnte. Hm, vielleicht hat ja mein Dauerflüstern die Jungs auch angeregt?
Abgesehen von der Müdigkeit, die mich morgen ereilen wird, weisen lange Solotermine noch einen gravierenden Unterschied auf. Normalerweise konzentrieren wir uns beim Sprechen auch auf die Schönheit der Worte. Wir sprechen einen Satz, der in der Luft hängt, durchaus schon mal zuende, verknüpfen lose Enden, bauen gelegentlich eine kleine rhetorische Schleife ein mit der Wiederholung eines Kernbegriffs, wenn es der Verständlichkeit hilft. Ich vergleiche das immer mit den Zierkappen eines Autoreifens. Die fahrbaren Untersätze rollen auch so, mit Zierkappen ist's aber schöner.
Bin ich alleine im langen Einsatz, haushalte ich mit der Energie und beschränke die Aufhübschungsmaßnahmen auf ein Minimum. Das Ergebnis klingt weniger druckreif. Gerade die deutsche Grammatik bietet in ihrer Komplexität und mit dem Verb am Ende viele Möglichkeiten, Sätze ins Endlose zu mäandern, um den Abgrund wenigstens zart anzudeuten.
Als sich dann der einzige nicht mehr aktive Politiker Deutschlands, der in geschlossenen Räumen öffentlich rauchen darf, eine Zigarette ansteckt, bin ich ihm dankbar dafür, dass dies erst nach etwa anderthalb Stunden geschah. Viel Rücksicht, einer Dame gegenüber! Vielleicht war ich doch nicht unsichtbar.
Vokabelnotizen:
Aktenkoffer — attaché case auf "Franglais", das deutsche Wort musste ich nach dem Marathon nachschlagen.
Zier- oder Schmuckkappe — enjoliveur oder chapeau de roue
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Fotos: C.E.
4 Kommentare:
Sehr geehrte C. E., haben Sie dann drei Stunden am Stück gedolmetscht?
Ja. Ich habe mich daran erinnert, dass mir die Kolleginnen, die bei Gericht dolmetschen, gerade erst auch von stundenlangen Verhandlungen berichtet haben, zu denen keine 2. Dolmetscherin geladen ist. Habe mich entspannt, auf "Autopilot" geschaltet und meine "Unterbrechungen" bestanden dann in Rumgehen ... bzw. es gab 3 x 5 Minuten, in denen mein Kunde selbst mit seinem Nachbarn geflüstert hat und ich mir für eine Zusammenfassung dann nur Stichworte gemacht habe.
Und ich war auch nicht über die Maßen kaputt hinterher, was aber wirklich daran liegt:
a) Thema bekannt,
b) Kunde wohlbekannt,
c) die Tage davor waren stressfrei gewesen,
d) die Tage danach stand auch nichts an.
Jedenfalls war ich überrascht, dass es so schnell vorbei war.
Und wem habe ich jetzt da geantwortet?
Gruß, CE
Hi Caro, also mir nicht. Ich kann mir vorstellen, dass Du allein drei Stunden durchhältst, aber eigentlich sollte es ja anders sein, oder? Sonst gibt's bald auf den Konferenzen nur noch Solo-Nümmerchen, das will ja keine(r).
Gruß, Th.
Lieber Th.,
nein, für Konferenzen geht das natürlich absolut nicht. Hier ging es "nur" darum, zur Hintergrundinformation zu dolmetschen — und zwar für EINE Person, die sich am Ende auch gar nicht an der Diskussion beteiligt hat, von kleinen Flüstereien mit dem Tischnachbarn bzw. Gesprächen anschließend abgesehen. Dass die Sache inhaltlich dann äußerst anspruchsvoll war, zählt gewissermaßen unter individuelles Pech. Ich hätte aber auch jederzeit meine Pausen nehmen können. Und dann war ich so entspannt und sprach halt mal so vor mich hin ...
Arte verwendet dafür üblicherweise den Begriff « interprète de liason », am I right? (Auf Englisch fand ich dazu den Begriff ad hoc interpreter, ist das jetzt alles deckungsgleich mit dem Begriff "Verhandlungsdolmetscher"?) Will sagen: Das Ergebnis ist am Ende sicher nicht ganz so akkurat. Anders ist es, wenn wir 1.) zu zweit und 2.) in einer anständigen Kabine sitzen.
Hallo, liest hier jemand von Arte mit? Ich kenne den Begriff nur aus dieser Situation: Bei Interviews für Journalisten/Moderatoren dolmetschen, aber bevor gesendet wird, folgt erst der Schnitt, dann wird das getippt und geschleift und von Schauspielern vertont (Dok) bzw. von den bekannten Arte-Dolmetscherstimmen take für take neu verdolmetscht (andere Programmformate).
[Ach, das würde ich mir gerne mal vor Ort ansehen bzw. dabei mitmischen. Eine gute Sprechstimme sagt man mir nach.]
Der Vergleich zum Gerichtsdolmetschen war Donnestag für mich relevant, wobei ich das mit den Gerichtsverhandlungen und nur EINEM Sprachmittler auch für stundenlange Befragungen viiiiieelll kritischer sehe als das Alleinvertonen eines solchen Hintergrundgesprächs ...
Bei Konferenzen sind ja sehr viele Hörer daran beteiligt, da geht es oft einen oder mehrere Tag(e) lang um sehr spezifische Themen, das ist etwas ganz anderes!
Bonne nuit et bon retour !
CE
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