Dienstag, 23. April 2013

Le hinterland (2)

Bonjour! Sie lesen hier Artikel eines digitalen Bordbuchs. Die Texte entstehen in Dolmetscherkabinen und am Übersetzerschreibtisch — dieser Beitrag aber in einem leeren Konferenzraum.

Montagmorgen um neun, ich sitze wie bestellt und nicht abgeholt in Berlin-Mitte. Ich bin bestellt und nicht abgeholt, denn die Lufthansa-Fluglotsen streiken, ein Teil der werten Kundschaft kommt nicht durch. Ohne Hintergrundarbeiter kein Flugverkehr, ohne Hintergrundmaterial keine gute Verdolmetschung, kurz: Hinterländer sind groß und wichtig.

Harter Schnitt: Neulich auf einer Verkehrsmesse, der Kunde sprach über Trans­port­logistik und verwendete regelmäßig das Wort "Hinterland": Der französische Kunde wohlgemerkt, le hinterland mit angehauchtem "H" und das A fast wie ein O aus­ge­sprochen. Cut.

Blick in die Enzyklopädie: Hinterland ist ein Begriff aus der Humangeographie und wird im Verkehrswesen rege verwendet. Zusammengefasst sind es die Gebiete "unter Ferner liefen", die noch nicht völlig erreicht und durchdrungen sind.

Hinterland, das kann für mich auch ein kultureller Begriff sein. Das Hinterland einer Vokabel zum Beispiel (gemeinhin "Wortfeld" genannt) oder das künstlerische Hinterland, das auf den ersten Blick nicht sichtbar ist, aber dringend nötig ist, damit überhaupt Spitzen hervorgebracht werden können (ein rasches Hallo an die deutsche Filmwirtschaft!). Und dann ist da noch das interkulturelle Hinterland, die von Land zu Land unterschiedlichen kulturellen Referenzen, in denen sich jeweils die Erfahrungen eines Stammes, eines Volkes oder einer anderen Gemeinschaft spiegeln.

Eine am Flughafen hängengebliebene Dame liegt auf einer Sitzbank, die Reisetasche dient als Kopfkissen
Wie bestellt und nicht abgeholt (Flughafensezene)
Flash back: Wieder neulich, nein, ziemlich lang her, da saßen wir in einem Kabuff und durften die Tonspur einer Designbefragung in Sachen Autos ver­dol­met­schen. In großen Hallen standen etliche Karossen rum, darunter zwei "Erlkönige", also lebensgroße Entwürfe. In diesen Wagen nahmen nun also die po­ten­tiel­len Kunden Platz und dachten laut nach; die Designer saßen etliche Räume neben uns.

Diese Art von Marktforschung, sie heißt car clinic, dauert meist einige Tage. Leider hatte uns am Morgen des ersten Tages niemand die Damen und Herren Designer vorgestellt. So dass wir am zweiten Tag als feed back die Bitte erhielten, doch möglicherweise einfachere Ausdrücke verwenden zu wollen. Meine Kollegin und ich sahen uns fragend an. Wir haben beide in Frankreich studiert und gelebt, aber dass sich in den letzten Jahren allein durchs Dolmetschen unsere Sprachkenntnisse derart radikal und gleichzeitig auf nicht mehr übersehbare Höhenflüge begeben hätten, erschien uns doch als recht unwahrscheinlich.

Wir fragten nach. Unsere Designer, also unsere direkten Kunden, seien gar keine Franzosen, sie lebten erst seit einigen Jahren in Paris, und unser ganz normales Alltagsfranzösisch, gemischt mit einigen Fachtermini und mit Um­gangs­sprach­lich­em, wir übertrugen halt nur das, was in Gegenwart der Autos erzählt wurde, hatte sie offenbar überfordert.

Es ist immer wichtig, seine Kunden zu kennen, sie am besten sogar im Vorfeld entspannt kennengelernt zu haben, das wurde hier wieder einmal deutlich.

Flash forward nach Berlin: Der Streik der Fluglotsen hat jetzt zur Ter­min­ver­schie­bung geführt. Da die Chose, wegen derer man hier zusammenkommt, dringend ist, wird nun Mittwoch konferiert werden. Mittwoch war ich aber schon gebucht. Ergo: Fluglotsenstreik = Einkommenseinbuße für eine völlig unbeteiligte Dolmetschine.

Ein "Kollateralschaden" also, dieser Begriff kommt aus dem Militär|un|wesen. Dabei wäre ich gerne "Hinterland" der Fluglotsen gewesen, wenn es um die Forderung nach angemessener Bezahlung von Arbeit geht, die mir ja auch immer am Herzen liegt.

Messetreiben im großen Querformat
Messetreiben

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Fotos: C.E. (Archiv)

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