Montag, 29. April 2013

Antizipation

Will­kom­men et bien­ve­nue auf den Sei­ten des Ar­beits­ta­ge­buch ei­ner Fran­zö­sisch­dol­met­scherin und -über­setzerin. Meine Arbeitssprachen sind Deutsch, Französisch und Englisch (passiv). Heute wieder: Kopfeinsichten, oder: Wie der Beruf einen bis ins Privatleben hinein prägt.

Im Kino lache ich oft vor allen anderen Zuschauern. Und ich lache an Stellen, die sich für mich wie Insider-Witze lesen, weil ich in "Einstellungen" oder auch schon mal im Tonschnitt Parallelen zu anderen Filmen sehe, die über die Art der Ver­bin­dung auf mich komisch wirken.

Ich weiß nicht, ob der zweite Satz der Einleitung für andere verständlich ist, ich lasse den einfach mal so stehen. Was ich beschreibe, ist Ergebnis ständigen Mit- und Querdenkens der visuellen, akustischen Angebote. Für mich sind Filme nichts rein Statisches, auch wenn sie nach dem image lock natürlich in dieser Version un­ver­änderlich sind. Aber ich habe in meinem bisherigen Leben auf der Inhalts- und Sprachebene zu viel an Filmen mitgewirkt, Filme "gesehen", während ich Dreh­bücher übersetzen durfte usw., um nicht vom Arbeitsprozess geprägt zu sein. Und als jemand, die das TV nicht mag ... (Ausnahmen bestätigen die Regel.)

Im Kino oder auch bei Witzerzählungen lache ich oft schneller als andere. Den Satz kann ich gut erklären.

Freitagabend waren wir im Restaurant. Ein Freund, mit dem ich oft die Sprachen wechsle, machmal vermischen sie sich auch, erzählte einen Witz, und der geht so: Ein Mann, dem man ansieht, dass er aus dem Ausland kommt, ist auf einem Kon­gress. Zufällig sitzt er in der Mittagspause mit einem anderen Kongressbesucher am selben Tisch. Die Herren probieren den Wein. Der andere Kongressbesucher fragt: "Glouglou gut?" (Glouglou ist onomatopoetisches Französisch für das Trink­ge­räusch, "gluck gluck" sagt dict.cc). Der fremdländisch aussehende Mann nickt. Dann wird das Essen serviert. Der andere Kongressbesucher fragt: "Jamjam gut?" Der Fremde nickt. Nach dem Essen geht die Veranstaltung weiter. Der fremdländisch Aus­­se­hende tritt ans Pult und hält seinen Vortrag (hier lache ich schon) ... in einwand­freiem Deutsch. Er kommt zurück auf seinen Platz, er sitzt neben dem anderen Kongressbesucher, und fragt ihn: "Blabla gut?"

Kerze, Gläser, Stoffserviette, Krümel auf StofftischdeckeMein Gegenüber zeigt sich ent­täuscht, denn ich scheine den Mi­gration­switz schon zu ken­nen. Schlimmer noch, ich habe ihn selbst zuende erzählt, ihm die Pointe vermasselt. Aber er war neu für mich. Ich habe nur die narrative Struktur ver­stan­den, das Ende antizipiert. Vor­aus­denken ist Teil des Dol­met­schens, konnte ich erklären. So war die Stimmung gerettet.

Mit einer gesprochenen Erzählung ergeht es mir also ähnlich wie beim Filmesehen: Ich habe so manche mögliche Variation im Kopf. Bei Filmen, Theaterstücken oder Büchern spüre ich, wenn es gut läuft, künstlerische Entscheidungen, freue mich daran, dass meine grauen Zellen durch Anspielungen gekitzelt werden, die ich manchmal nur in Gedanken antizipiere. Wenn ein Film (Theaterstück, Buch ...) hinter seinen Möglichkeiten bleibt, Material verschenkt, bin ich traurig. (Das ist der Grund, weshalb ich kein TV mehr sehe, das bleibt mir zu oft unterhalb einer halbwegs anspruchsvollen Flughöhe.)

Ein Kunstwerk, das sein Potential nicht ausschöpft, fühlt sich an wie ein Witz, dessen Pointe vermasselt wurde.

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Foto: C.E. (Archiv)

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