Sonntag, 8. Januar 2012

Stressholz

Willkommen auf dem Blog einer Dolmetscherin und Übersetzerin für die französische Sprache. Hier schreibe ich über unseren Berufsalltag, den viele Lernphasen strukturieren, oder aber ich denke über die Grundlagen unseres Wirkens nach, die Sprache und das Hintergrundwissen, und wie sie auch helfen können, unseren privaten Alltag zu meistern. Für C. und P. (Aus dem Englischen. Das Original folgt hier, sobald es das Lektorat durchlaufen hat.)

Selbst die Rose hat Stressholz ausgebildet.
Im Hintergrund meine Tageslichtlampe

Wir Menschen brauchen Schwierigkeiten im Leben, denn sie strukturieren uns. Zunächst müssen wir normale Schwierigkeiten überhaupt erleben können und dürfen nicht in einer Glaskugel aufwachsen, von den Eltern vor den geringsten Problemen beschützt. Dann ist es wichtig zu akzeptieren, dass das Leben mitunter kompliziert ist, dass wir mit Schwierigkeiten zurechtkommen und lernen müssen, Antworten auf sie zu finden, aktiv zu werden.

Meine Worte möge ein konkretes Beispiel illustrieren, das ich in der 2. Hälfte der 1990-er Jahre von meinen Reisen in die USA mitgebracht habe. In der Wüste Arizonas bauten Wissenschaftler zwischen 1987 und 1991 ein riesiges Gebilde aus zusammenhängenden Gewächshäusern, um die komplexen Zusammenhänge zwischen den Ökosystemen zu untersuchen, die wir auf der Erde kennen. Und weil unser Globus die erste Biosphäre ist, wurde das Unternehmen "Biosphere 2" getauft. In den frühen Neunzigern haben Wissenschaftler dann versucht, in diesem geschlossenen System zu leben ... und sie scheiterten.

Das Scheitern hat viele Ursachen, über die ich hier nicht sprechen werde. Aber zugleich konnten sie zahlreiche wertvolle Beobachtungen anstellen. Zum Beispiel sahen sie, dass die Bäume lediglich dünn und schwach wuchsen, dass ihr Wurzelwerk unterentwickelt blieb. Manche Bäume knickten sogar unter dem eigenen Gewicht ein. Nach einer Weile des Nachdenkens verstanden die Wissenschafter: Die Abwesenheit von Wind hatte die Bäume geschwächt. Beim Wachsen müssen Bäume starken Winden widerstehen, um das zu entwickeln, was die Wissenschaftler daraufhin "Stressholz" (stress wood) genannt haben. Sie brauchen die Winde auch, um starke Wurzeln zu entwickeln, um ihre eigene Struktur zu festigen. Draußen sind es die Winde (= die Schwierigkeiten), die es den Bäumen erlauben, kräftig zu werden, so dass sie dem nächsten Wind (oder sogar mehr) standhalten können ...

Conclusio: Wir Menschen brauchen Schwierigkeiten und wir müssen das, was uns ängstigt und leiden macht, annehmen. Wenn wir sie akzeptieren und unsere Antworten finden, entwickeln wir Stressholz und Wurzeln, so dass Schwierigkeiten zu einer Herausforderung im Leben werden können, die uns Leib und Seele stärken.

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Foto: C.E.

2 Kommentare:

H hat gesagt…

Es gibt auch Windflüchter, das sind Bäume, die den Wind nur von einer Seite kriegen und deswegen deformieren. In Graal gab es den Gespensterwald mit solchen Bäumen. Zur Idealform braucht man also nicht zu wenig und nicht zu viel Wind.
DH

caro_berlin hat gesagt…

Danke, sehr richtig. Mit dem Wind ist es wie mit dem Wasser und der Sonne: Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig ...
Grüße, C.