Dienstag, 4. Oktober 2011

dekonspirieren

Guten Tag, bonjour, hello! Sie lesen im ersten deutschen Weblog aus dem Inneren der Dolmetscherkabine. An dolmetschfreien Tagen übersetze ich nor­ma­ler­wei­se (oder auch nicht).
 
Gestern war für mich ein Ar­beits­tag wie viele andere Sonn- und Feiertage auch. Ich beging den 21. Jahrestag der deutschen Vereinigung mit der Lektüre eines Drehbuchs, das mir zur Übersetzung an­ge­bo­ten wurde.

Um mit dem Ende anzufangen: Ich werde es ablehnen. Das Buch spielt in der DDR.

Als Westspross einer sächsischen Familie kannte ich das Land gut und war sehr gespannt, als ich mit dem Le­sen anfing. Die Enttäuschung ließ leider nicht lange auf sich warten. Der Pro­ta­go­nist des Buches wandert für einen relativ un­be­deu­te­ten, kritischen Satz in den Bau zu einer Zeit, in der selbst Würdenträger in der Halböffentlichkeit heftiger vom Leder gezogen haben. Wie dann der zugreifende Staatsapparat dargestellt wird, Verhaftung, Kontrolle der Familie und Kon­se­quen­zen für dieselbe, Verhöre, Wachfolter usw. wird in einer Art und Weise dargestellt, dass Leser (und künftige Zuschauer) eher an die Methoden des "3. Reichs" denken als an die späte Phase der Arbeiter- und Bauerndiktatur.

Diese "Illustration" eines allmächtigen Staates vermag ich nicht als Kunstgriff zu lesen. Die DDR war sicher ein Unterdrückungsstaat, der Menschen bis aufs Blut quälen und auch töten konnte, aber im Alltag, zumindest in der Provinz, sah das Leben fröhlicher aus als das, was hier als vorgebliche Normalität dargestellt wer­den soll. Nein, das "Ländle", um es mit Ruth Berghaus zu sagen, war kein rot­an­ge­strichenes Groß-KZ mit einerseits freudlos und ergeben in ihr Schicksal durch die Straßen schlurfenden Insassen und andererseits übereifrigen, den ganzen Tag nur mit Orden am Revers und marxistischer Literatur unter dem Arm her­um­pa­trouil­lier­en­den Funktionären, wie es das Drehbuch glauben machen mag.

Auch das Mitmachen einer teilweise staatsferneren Funktionselite war weitaus dif­fe­ren­zier­ter, als es heute (vor allem vielen Westlern) als Ergebnis von Schwarz-Weiß-Denken erscheint. Aber je nach persönlicher Situation konnten sich viele erstaunlich effizient durchwursteln: Oft genügte in den 1980-er Jahren einfaches Dekonspirieren (oder dessen Ankündigung), um sich zum Beispiel lästigen Fragen des Apparats nach deutlich engerer Mitarbeit zu entziehen.

Ich bin aufgrund meiner Biographie niemand, der die DDR in Schutz nehmen wür­de. Ich weiß aber auch um etliche, hübsche Nischen, die Pflege der Kultur, der Musik, und dass der heutige Kapitalismus mit seinem Warenüberangebot genauso zerstörerisch ist wie die Produktionsweisen der knappen Verbrauchsgüter in der Vormaligen, die oft keinerlei Rücksicht auf die Natur oder die Gesundheit der Menschen nahmen. Natürlich waren die Grundrechte eingeschränkt und der Filz der herrschenden Kaste dicht, aber die meisten DDR-Bürger lebten einen be­schau­li­chen Alltag mit Höhen und Tiefen, Glück und Unglück, das nicht immer vom Staatsapparat bestimmt wurde.

Aber auch dramaturgisch hakelt das Buch, oder bin ich jetzt Opfer der Fort­bil­dun­gen, an denen ich teilgenommen habe? Geschrieben wurde das Buch von einem älteren Franzosen. Er ist kein unbekannter Drehbuchautor, und ich nehme an, er hat als junger Mann selbst unter der Ausgrenzung durch Salonkommunisten ge­lit­ten, da er aufgrund seiner Lebensgeschichte von dieser Gesellschaftsschicht fernblieb. Warum hat er sich um Himmels willen denn nur die DDR rausgesucht, um seinen Zorn zu verarbeiten? Ein eigener Bezug zu diesem Land wird es kaum sein, denn einige deutsche Dialogpassagen verraten mir, dass er Deutsch nicht kann. Warum hat ihm sein Produzent nicht gesagt, dass er bitte seine eigene Geschichte aus dem Paris der Nachkriegsjahre erzählen soll?

Nein, ich werde das Buch nicht übersetzen, selbst wenn ich im Oktober/November Zeit dafür hätte. Aber es geht um Lebenszeit, und die möchte ich nicht für Ge­schichts­klit­terung verwenden. Mit anderen Worten, und ich zitiere einen mir Nahestehenden: Nicht der Beruf hat, mich, ich habe einen Beruf. Und der macht nur dann Spaß, wenn er sinnvoll ist.

Auch dem Produzenten gegenüber werde ich höflich, freundlich und vorsichtig dekonspirieren. Große Namen reichen heute nicht mehr; das, was sie abliefern, muss auch noch gut sein.


P.S.: Dekonspiration ist übrigens wieder hochaktuell, in vielen Bereichen des Le­bens. Das Unbotmäßige, von dem alle so tun, als wäre es normal, einfach völlig entspannt benennen, ist auch heute eine gute Methode, um unangefochten aufrecht leben zu können.
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Foto: C.E.

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Du hättest demnach auch verweigert, das Drehbuch von "Das Leben der anderen" zu übersetzen?

caro_berlin hat gesagt…

Also, zunächst sind diese Bücher nicht vergleichbar. Das von mir abgelehnte Buch stimmt hinten und vorne nicht, dramaturgisch wie inhaltlich und sprachlich. Sicher kann man auch in Sachen Authentizität dem "Leben der anderen" viel vorwerfen, diese Diskussion will ich hier gar nicht führen (zumal ich nicht mal weiß, mit wem).

Vor allem aber entscheide ich über "meine" Projekte, indem ich den Eindruck prüfe, den ein Text bei mir hinterlässt. Ich weiß, dass ich nicht gut bin, wenn ich mich mit schlechter Laune an den Schreibtisch prügeln muss. Meine Arbeit ist mehr "Rewriting" in einer anderen Sprache als die simple Übersetzung von Worten, denn Stimmung und Stimmlage sind Teil eines Werks. Und nun bin ich gespannt, was stattdessen für die nächsten zwei Monate so reinschneit, denn ich habe ja oft mehr Nachfrage als Zeit.

Für die erste Zeit steckt jetzt viel Filmwirtschaft in der Pipeline, super, Fachtermini aktivieren, freu mich schon. Das wäre nicht so entspannt geworden, wenn ich mich morgens in den ersten drei, vier Stunden einer Pseudo-DDR mit zu heldenhaften Helden und zu schlimmen Bösewichten hätte widmen müssen. Das ist alles purer Holzschnitt. Rasch nochmal auf "Das Leben der anderen" zurückgeschwenkt: Hier war ja der besondere Kunstgriff die schillernde Figur, die Ulrich Mühe verkörpert hat.

Anonym hat gesagt…

Schön, wenn Sie Ihre Nische im System gefunden hatten, doch viele Menschen hatten dieses Glück nicht. Beschäftigen Sie sich doch einmal mit den Akten der Opferentschädigungsstellen (Amt für Soziales und Versorgung). Dicke Stapel, unendlich viel Leid, viele Analogien zu dem vorherigen sozialistischen Staat auf deutschem Boden.

caro_berlin hat gesagt…

Hallo Anonymus,

Ihre Zeilen haben mich erreicht. Ich weiß nicht, von welchem Amt und welcher Art Akten Sie sprechen. Sie haben auch die Journalistin erreicht, die ich in einem ersten Berufsleben war, und als diese habe ich noch gute Kontakte zu früheren Kollegen. Wenn Sie mir bzw. diesen Kollegen einen Hinweis für eine Recherche geben möchten, erreichen Sie mich über den Kommunikationsweg Ihrer Wahl.

Mit freundlichen Grüßen,
Caroline Elias

P.S.: Als Dolmetscherin allerdings unterliege ich der einer 100%-igen Schweigepflicht.

André hat gesagt…

@anonym
Auch der Westdeutsche Staat kannte leider wenig Skrupel, wenn es um mißliebige Personen ging. Die Methoden mögen anders gewesen sein, aber die Folgen für die Betroffenen immer ähnlich.

Genauso wie im 2.WK es keine wirklich gute Seite gab und alle beteiligten Großmächte ihre Varianten von KZ´s betrieben, kann man auch die beiden deutschen Staaten nicht einfach in guten Westen und bösen Osten unterteilen.

caro_berlin hat gesagt…

Ja, na klar gab's Zersetzung und Berufsverbote oder Karrierebehinderung auch im Westen, das weiß ich aus der eigenen Familie. Wer nach der Guillaume-Affaire (aus privaten Gründen) regelmäßig in die DDR fuhr, hatte Probleme, im Westen Beamter zu werden, z.B. Professor. Und er musste nach Rückkehr "Bericht erstatten", wurde gefragt, ob er Truppenbewegungen gesehen habe oder derlei mehr. Das wird heute gern unter den Teppich gekehrt.

Beim Satz, dass es im WW II "keine wirklich gute Seite" gegeben haben soll, muss ich Dir aber heftig widersprechen. Nur einen Aspekt möchte ich benennen, die Lager: Die millionenfache, perfekt organisierte, fabrikmäßige Auslöschung von Menschen wie in von Deutschen organisierten KZs ist ein Zivilisationsbruch sondergleichen ... inkl. Verwertung der Überreste und Besitztümer ...

Es liegt mir fern, Menschenleben gegen Menschenleben aufrechnen, hier geht's um die Art und Weise.

André hat gesagt…

Deshalb hab ich auch von "ihrer Variante des KZ" gesprochen. Auf russischer Seite gab es zu einem die Lager für nicht linientreue Leute, dann die Auslöschungskampagnen unter den verschiedenen Gruppen und schließlich die unglaublichen Massen an Soldaten, die fast nicht ausgebildet und praktisch ohne Ausrüstung dem Gegner entgegengeworfen wurden. Auf amerikanischer Seite gab es die Internierungslager für Bürger japanischer Herkunft. Dies waren fast alle in der Wüste gelegene Lager und es mangelte an Wasser, Nahrung, Medikamenten und auch sanitären Einrichtungen, der massenhafte Tod der Internierten wurde billigend in Kauf genommen. Die Japaner hatten ihre eigene Version von Mengele und KZ auf dem Festland. Auch die Atomversuche an der eigenen nichtsahnenden Bevölkerung sehe ich als Kriegsverbrechen. Und die Briten selber gelten als Erfinder der KZ`s, die sie während der Burenkriege eingeführt haben. Man sollte auch nicht die Zwangssterilisation nach England geflüchteter Juden vergessen. Und in der Schweiz kann man noch heute die Massengräber dort betriebener Konzentrationslager finden, auch wenn dies gerne verschwiegen wird.

Und selbts obiges Horrorkabinett ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was inzwischen durch die Öffnung vieler alter Archive ans Tageslicht tritt. Bis auf Stalin (der Hitler noch weit übertroffen hat) war kein anderer Staatenlenker so effektiv in der Vernichtung, aber ich bleibe dabei, es gab keine wirklich gute Seite. Praktisch alle Hauptbeteiligten an diesem Krieg haben unvorstellbare Grausamkeiten in großem Maßstab begangen. Teilweise haben wir es Menschen wie Churchill, Kruschtschow u.a. zu verdanken, dass es nicht noch schlimmer kam, indem sie die Falken in den eigenen Reihen ausbremsten.

Hätte übrigens Lindbergh sich von seinen Freunden dazu überreden lassen für das Präsidentenamt zu kandidieren, hätte er mit großer Sicherheit gewonnen und die USA wären entweder auf deutscher Seite oder nie in den Krieg eingetreten. Die Grenze zwischen Gut und Böse ist oft nur eine hauchdünne Grenze. Und mit den entsprechenden Leuten an der Spitze kann sich die Lage sehr rasch ändern, wie uns ja auch McCarthy und MacArthur ein paar Jahr später bewiesen haben.