Zunächst muss ich meine eigene Überraschung eingestehen: Mein Berufsalltag als Dolmetscherin ähnelt zumindest abends dem Leben, das ich als Schülerin geführt habe. Eine jugendliche Leserin bat mich, einen typischen Arbeitstag zu beschreiben. Erste Beobachtung: Wie damals fängt der Tag am Vorabend an, denn abends wiederhole ich kurz, was ich tags gelernt habe. Auch in auftragsfreien Zeiten (die sind deutlich in der Überzahl) lerne und übe ich; die nächste Konferenz, das nächste politische Hintergrundgespräch kommen bestimmt. Es geht darum,
à jour zu bleiben.
Dolmetscher verfolgen, was in ihren Fachgebieten passiert, aber auch tagesaktuelle Themen. Oft arbeite ich alte Unterlagen erneut durch und betrachte eingehender, was mir beim letzten Mal anstrengend erschien. Denn ich kann darauf wetten, dass die Schwierigkeiten so lange in Serie auftreten, bis ich sie im Schlaf meistern könnte, und dass einer "meiner" nächsten Redner auf die Nachrichtenlage anspielt, selbst unter Historikern. Also gilt es, sich vorher darüber zu informieren, wie das EHEC-Bakterium auf Französisch genannt wird
(E.coli).
Dann lege mir mein Arbeitsmaterial für den nächsten Tag bereit bzw. packe die Tasche. Und hier endet die Parallele zum Schülerleben, bis auf eine Ausnahme: die vielen Prüfungen.
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Käseprobe |
Wenn ich in eine andere Stadt gereist bin, um dort auf einer Konferenz (oder bei Dreharbeiten) zu dolmetschen, übernachte ich nicht selten in Hotels. Hier ist rechtzeitiges Eintreffen für mich wichtig, um Stress zu vermeiden. Anschließend genieße ich ein leichtes Abendessen, vielleicht noch einen Saungang oder etwas Sport.
Oft wohnen Kollegen im gleichen Hotel, wir sprechen nochmal jene Punkte durch, die trotz guter Vorbereitung unklar blieben und tauschen Vokabeln aus. Oder aber es kommen in letzter Minute noch Informationen zum Programm in die Mailbox geflattert oder völlig neue Texte ... Wir Dolmetscher führen übrigens ein recht maßvolles Leben. Zu Probehäppchen vom Käse gibt's ein, zwei Schlückchen Wein. Nur die Menge dessen, was wir an Inhalten in uns reinschaufeln, ist manchmal ein wenig zu groß. Dann geht's beizeiten ins Bett. Da ich schlecht schlafe, habe ich immer mein eigenes Kopfkissen und Baldriantabletten dabei ...
Morgens weckt mich das Handy, das nachts ausgeschaltet war. Nach der Morgengymnastik ab unter die Dusche! Ich verwende geruchlose medizinische Seifen und Cremes und nur eine Winzspur Parfum, denn später, auf der Konferenz, teile ich mir in der Regel über Stunden mit einer Kollegin oder einem Kollegen die wenige Quadratmeter
|große| kleine Dolmetscherkabine. Dann frühstücke ich leicht (Obst, Müsli, Vollkornbrot). Für den kleinen Hunger zwischendurch gibt's in der Tasche einen kleinen Vorrat von Müsli- oder Fruchtriegeln aus dem Bioladen.
Mit ausreichend Zeit im Gepäck gehe ich los. Unterwegs und in den Pausen lese ich Zeitung(en), notiere hier noch einen allgemeinen Begriff, dort ein Zitat. Dafür ist nur Wachheit nötig und Fragen wie:
Hat Frau Merkel in den USA was Prägnantes verlautbart? Denn besonders gern wird in Einleitungen oder Moderationen Bezug auf Aktuelles genommen.
Vor Ort begrüße ich Veranstalter, Kollegen und den/die Menschen von der Technik, dann prüfen wir zusammen kurz die Anlage. Die meisten Dolmetscher reisen heute mit Laptops an, die Techniker stellen sich immer öfter darauf ein und kennen nicht selten schon den Zugangscode für das örtliche W-Lan. Noch einmal rasch "Hände waschen" gehen, kohlensäurefreies Wasser einschenken und die Namen der Teilnehmer üben. (Im Zweifelsfalle Veranstalter fragen.)
Dann beginnt etwas, was mir auch nach Jahren noch wie eine Prüfungssituation vorkommt. Die Situation selbst hat sich kaum verändert, im Vergleich zur Abiturszeit ist aber mein Umgang damit inzwischen viel entspannter. Doch selbst heute noch können mich manche Redner in leichte Nervosität versetzen: Schnellsprecher, die ihr Typoskript runterrattern, Hektiker, Nuschler, Leute, die vergessen, dass ein Mikrophon ihnen gar nicht auf Schritt und Tritt folgen kann ...
Dolmetschen bedeutet vereinfacht gesagt, gleichzeitig zu hören, zu begreifen und zu reproduzieren. Das ist sehr anstrengend. Daher wechseln wir uns meistens alle 20 bis 30 Minuten ab.
In den Pausen tauschen wir letzte Dokumente aus, fragen vorsichtig nach fehlenden Texten für den Folgetag (so es einen gibt), trinken und essen etwas, nein, mehr noch: genießen, was es gibt, entspannen uns, telefonieren mit zu Hause, gehen ans Licht.
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Ruhige Hände ... |
Und wenn der Tag rum ist, klären wir die letzten Fragen, sammeln unsere Siebensachen zusammen, bedanken uns bei den Beteiligten und versuchen, den Schalter umzulegen. Dazu höre oder mache ich Musik, lese, beschäftige mich mit Kunst oder den Balkonpflanzen oder aber ich gehe laufen oder schwimmen. Ohne Ausgleich kann ich mir selbst dabei zusehen, wie ich immer nervöser werde. Und das ist nicht gut. Ich muss in der Kabine, wenn ich nicht spreche, im ersten und übertragenen Wortsinne meine Hände ruhig halten, denn störende Begleitgeräusche lenken die Zuhörer vom Inhalt ab.
Und irgendwann im Laufe des Abends sammeln sich auch die Gedanken wieder, um den nächsten Tag vorzubereiten, und sei es auch nur damit, kurz die Schwierigkeiten des Tages zu überfliegen und in einer oder mehreren Arbeitssprachen die Abendnachrichten zu sehen.
Ein Tag im Büro kann
so aussehen.
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Fotos (C.E.) ... aus Frankreich, bien sûr !