Samstag, 4. Oktober 2008

Szenisches Dolmetschen

Ich nicht sprechen Deutsch. Ich sein klein und dumm.

Neben mir steht ein Mann auf der Bühne, er ist Ende Vierzig, hat dunkles, weiß durchsprenkeltes Haar auf einem eckigen Schädel, dunkle Augen, sein Teint ist dunkler als meiner.

Papa is Arbeita  auf Baustelle.

Und dann spricht er auf Französisch weiter, erst gebrochen, dann immer besser, seine anfangs kindlichen Bewegungen sind am Ende nicht mehr ungelenk, sondern so elegant wie sein Anzug. Trotzdem, wer den Mann neben mir auf der Bühne des Berliner Ensemble stehen sieht, kommt nicht auf den Gedanken, es mit einem promovierten Akademiker zu tun zu haben, einem Mann, der sich in sozialwissenschaftlicher Forschung der Migration einen Namen gemacht hat.

Papa, Mama und ich wohnen in Bidonville. Was das? Häusa von Blech und Holz.

Im Theater ist es dunkel. Wir würden eine Stecknadel fallen hören, so leise ist es, und wüssten wir nicht, dass an die 600 Schüler vor uns sitzen, wir müssten annehmen, auf der Probe zu sein. Aber wir sind mitten in einer Literaturlesung für Schüler. Das Internationale Literaturfestival Berlin hat Azouz Begag eingeladen, und das nicht zum ersten Mal. Und ebenfalls nicht zum ersten Mal stehe ich neben dem Mann, der mit Le "Gone du Chaâba" ein Kinderbuch geschrieben hat, in dem er seinen Weg raus aus dem vorstädtischen Blechhüttenslum rein in die Hochschule beschrieben hat. Dazwischen lag l'école républicaine, die Schule der Republik, die seit 1905 weit entfernt ist von jeder kirchlichen Prägung und die es im Durchschnitt in den letzten Jahren besser vermocht hat als das deutsche Bildungssystem, Kindern mit Migrationshintergrund echte Aufstiegschancen anzubieten. Azouz Begag brachte sie auf den Weg in Richtung Forschung und von dort in die französische Politik, er war von 2005 bis 2007 'beigeordneter Minister für die Förderung von Chancengleichheit'.

Zurück ins Theater: als Dolmetscherin hab ich zu viel tun, um neben diesem Kaliber standzuhalten. Wir sprechen und dolmetschen im Reißverschlussprinzip, ein kleines Stückchen so, ein kleines Stückchen so. Immer wieder lässt Azouz ein deutsches Wort in seine französischen Sätze einfließen, und wir haben verabredet, dass ich es umgekehrt genauso mache. Wir nutzen die Sprachsituation als Moment der Unterhaltung. Es kommt an bei den Kids, von denen selbst viele Migrationshintergrund haben.

Nach der Vorstellung warte ich mit Max, meinem damaligen Ziehsohn, auf Azouz, da kommt ein Mädchen mit Kopftuch zu uns  wir stehen direkt neben dem Ständer mit den Programmen des BE. Sie schaut, was hier sonst noch so angeboten wird, und vorsichtig, wir wollen ja keine Enttäuschung programmieren, erklären wir ihr, warum die Veranstaltung heute nicht nur etwas besonderes für die Schüler, sondern auch für den Ort war. (Was ich verschweige: Auch für mich, denn nichts ist so anspruchsvoll, wie ein kulturfernes, jugendliches Publikum. Selten habe ich derart anstrengende Jobs.)

Diese Episode stammt von 2004. Nach den Jahren in der Politik kam er dieses Jahr wieder nach Berlin. Jetzt reist er nach Los Angeles als visiting professor. Have a safe trip, Azouz!

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Foto: Ein Wiedersehen 2008.
Filmtipp:
Das Kinderbuch "Gone du Chaâba" wurde 1998
von Christophe Ruggia verfilmt (und von mir im Auftrag
der französischen Botschaft untertitelt).

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