Dienstag, 26. Oktober 2010

Mitfühlen

Es gibt Tage, an denen bin ich abends so geschafft, als hätte ich als Arbeiter im Straßenbau sagen wir mal den Bürgersteig vor unserem Haus aufgerissen, ein metertiefes Loch gebuddelt, neue Rohre verlegt, alles wieder zugeschüttet und neu gepflastert. Es gibt Tage, an denen schlafe ich fast im Stehen ein, so müde bin ich. Dabei arbeite ich nur als Dolmetscherin für die französische Sprache in Berlin.

Und als Dolmetscherin 'vertone' ich meine Kunden immer in der ersten Person Singular. Ich sage also "ich", wenn der andere "je" sagt.

Nun war ich wieder mit Sozialstadträten aus der französischen Vorstadt unterwegs. Wir sprachen mit Lehrern aus Problemschulen, die ihre Worte mit Bedacht wählten - und viel Erschöpfung zum Ausdruck brachten. Wir sprachen mit Leuten von Notunterkünften, von einer Suppenküche und mit Sozialarbeitern. Immer klang es wie Kästner im Original, wie Notrufe und "Es geht um die Kinder!" war allenthalben auch das Echo. (Zitat aus Die Konferenz der Tiere, in einer ökologisch abgewandelten Fassung, derzeit im Kino).

Die bleischwere Last, die auf manchem unserer Gesprächspartner lag, übertrug sich immer mehr auf mich. Ich sage beim Dolmetschen "ich", wenn mein Gegenüber "je" sagt, ich schlüpfe hinein in den anderen, mache mir seine Sorgen und Nöte zu eigen.

Dann besichtigten wir noch einige Einrichtungen Neuköllns, und wir gingen zu Fuß von einem Ort zum anderen. Einmal standen wir an einer Ampel hinter einer alten Dame. Mein Kopf sortierte, nein, von Alten war heute nicht die Rede gewesen. Die kleine Dame - sie ging mir vielleicht bis zur Brust - war pieksauber gekleidet mit von Hand reparierter Hutkrempe. Sie schaute irritiert drein, als sie sah, dass sie von beschlipsten und seidenbetuchten Anzug- und Kostümträgern umringt war.

Ich ging mit einigem Abstand hinter ihr her. Ich fühlte plötzlich, als wäre ich sie, wie mühsam sie sich mit Gehstock über die Chaussee bewegte und dem schadhaften Stellen im Asphaltbelag auswich. Auf der Mittelinsel machte sie Halt. Mein Blick fiel auf ihre Beine.

Ja, eine akkurate Dame, und ihr Stolz ist größer als ihr Vermögen. Für sie kommt es nicht infrage, mit löchrigen Strümpfen aus dem Haus zu gehen. Mir blieb gerade Zeit für ein rasches Foto. Dann ging die alte Dame aus Neukölln mühsam, aber ruhig weiter.

(Einigen meiner Begleiter waren die Details von Madame entgangen, sie fragten mich nachher, was ich denn da auf der Straße Interessantes fotografiert habe.)

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Foto: Caroline Elias

3 Kommentare:

Jacob hat gesagt…

« I go straight in very close to people and I do that because it's the only way you can get the picture. You go right up to them. Even now, I don't find it easy. I don't announce it. I pretend to be focusing elsewhere. If you take someone's photograph it is very difficult not to look at them just after. But it's the one thing that gives the game away. I don't try and hide what I'm doing - that would be folly.

- Martin Parr - British Journal of Photography interview, 1989 »

caro_berlin hat gesagt…

Danke für das Zitat. Ja, es war mir peinlich, richtig peinlich. Aber es musste sein ...
Grüße, C.
Gern bald wieder so ein Kultur-Jumping-plus-Kino-und-Kneipe-Abend!

Hilke G. hat gesagt…

Danke fürs Bild! Oder aber sie ist Millionärin und wird ihr Geld dem Tierschutzverein vererben! Schönes Wochenende, Hilke