Dienstag, 14. November 2023

Die Amüs­phäre

Hallo, hier bloggt ei­ne Sprach­ar­bei­te­rin. Ich über­set­ze und dol­met­sche. Ar­beits­spra­chen: Fran­zö­sisch (aktiv und passiv) und Eng­lisch (nur Aus­gangs­spra­che), die Büro­kol­le­gin über­setzt ins Eng­li­sche. Meine Ar­beit ist mit vie­len Zug­rei­sen ver­bun­den, die manch­mal be­las­tend sind.

Bahnhof Friedrichstraße mit der Friedrichstraße in der Nacht
Nachts ist Berlin an etlichen Orten eindrucksvoller als am Tag
Im an­sons­ten schläf­ri­gen Re­gio­nal­zug, ich fahre spät von einem Kurz­ein­satz im Bran­den­bur­gi­schen nach Berlin zu­rück und ha­be wie so oft im An­schluss noch Mu­seum und Stadt be­sich­tigt, beschwert sich eine junge Frauen­stim­me lau­tstark. 

Weg­hö­ren ist für uns Mit­rei­sen­de unmöglich. Eine be­stimm­te Person würde rum­trat­schen, so­gar Lügen über sie ver­brei­ten, klagt sie. Das sei eine "Amüs­phäre", in der sie nicht mehr Freun­din ge­nannt wer­den möchte.

Ich stelle mir diese Amüsphäre vor: Par­ties, Al­ko­hol, Tanzen­gehen, Fast Food und Ta­bak, mit oder ohne Zu­sät­zen, lauter Ir­gend­wie-Youngs­ters. Ich finde meine Fan­ta­sie be­grenzt und schä­me mich fast dafür. Höre und sehe hin.

Die Frau ist maxi­mal 35 Jahre alt, und die kämpft nicht nur mit Fremd­wör­tern — die Grund­la­gen der deut­schen Spra­che fal­len ihr schwer. Sie ist un­ter­setzt, hat ein auf­ge­dun­se­nes Ge­sicht, sträh­ni­ge, blon­dier­te Haare, und als ich an­fan­ge, mir ei­ni­ge Fra­gen zu stel­len, schreit sie: "Hör auf mit die­sem ‘Jes­sie, be­ru­hig disch. Nein, kein Be­ru­hi­gen!’" ins Mobil­te­le­fon.

Die Frau ist maxi­mal 35 Jahre alt, und die kämpft nicht nur mit Fremd­wör­tern — die Grund­la­gen der deut­schen Spra­che fal­len ihr schwer. Sie ist un­ter­setzt, hat ein auf­ge­dun­se­nes Ge­sicht, sträh­ni­ge, blon­dier­te Haare, und als ich an­fan­ge, mir ei­ni­ge Fra­gen zu stel­len, schreit sie: "Hör auf mit diesem ‘Jessie, be­ru­hig disch. Nein, kein Be­ru­hi­gen!’" ins Mobil­te­le­fon.

Sie trägt eine künst­lich ge­bleich­te Jeans mit großen Ris­sen darin, ko­mi­sche Mode, vor allem im No­vem­ber, ein zu knap­pes T-Shirt mit aufge­kleb­ten Glit­zer­stein­chen, ein nicht les­ba­rer Schrift­zug zieht sich über die üppige Brust, ne­ue Sport­schuhe und -jacke. An der Leine hält Jes­sie einen Kampf­hund, des­sen Maul­korb am Griff eines Kin­der­wa­gens bau­melt. Das Kleine im Wa­gen, maxi­mal zwei, schläft. Es ist halb 12 in der Nacht.

Ein Mit­rei­sen­der wacht er­schro­cken aus der Trance auf. Er sieht, wie der Kampf­hund vor ihn steht und ihn mit un­freund­li­cher Mine be­lau­ert. Es folgt eine ge­mur­mel­te, aber hör­bare Schimpf­ti­ra­de auf derlei Vier­bei­ner, ver­bun­den mit der For­de­rung nach einem Hun­de­füh­rer­schein.

Das Baby wacht auf und schreit wie am Spieß. Jes­sie klemmt sich das Telefon zwi­schen Schul­ter und Ohr und nes­telt ein zwei­tes Ge­rät aus ihrer en­gen Jeans. Sie stellt einen lau­ten Zei­chen­trick­film an und hält ihn dem Baby hin, das schlag­ar­tig auf­hört zu schrei­en. Dann schimpft auch die Mut­ter wei­ter, jetzt über den Mit­rei­sen­den, den Schrei­hals, die Welt, das Gan­ze zur auf­ge­drehten, kit­schi­gen Schräp­mu­sik aus dem Kin­der­wa­gen.

Die Er­fin­dung mo­bi­ler Tech­nik war nie stö­ren­der als in die­sem Au­gen­blick. Meine Em­pa­thie ist bei dem Kind, beim Klei­nen von heute, sowie dem gro­ßen Kind, das ges­tern klein war. Es ist schmerz­haft. Hof­fent­lich sind wir bald da.

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Foto: C.E.

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