Mittwoch, 15. April 2020

COVIDiary (36)

Bonjour, gu­ten Tag & hel­lo auf den Sei­ten des ers­ten deut­schen Dol­met­scher­blogs aus dem Inneren der Dol­metscherkabine. Derzeit schreibe ich vom Büro aus, das brachliegt (mehr dazu hier). Das Coronavirus macht aus meinem Blog aus dem Be­rufsall­tag das eher pri­vate COVIDiary. 

Die Zahl der Kriegsgewinnler steigt. Und denen wünsche ich alles Mögliche an den Hals, nur nicht das Virus. Ich wünsche ihnen vor allem Erkenntnis.

Home office may seriously harm your office plants. Homeoffice kann Ihre Büropflanzen ernsthaft schädigen.
Gesehen in Kreuzberg
  Dolmetschagentur S. aus H. lässt sich im Internet feiern. Während der Corona-Kri­se bietet die Agentur nämlich ihren Te­le­fon­dolmetschservice für Krankenhäuser bun­des­weit kostenlos an. Schon seit ei­ni­gen Jahren verkauft die Firma diese Dienst­leis­tung, ab jetzt und bis zu Mo­nats­en­de arbeiten alle gratis. Begründung der Fir­men­in­ha­be­rin: „Das Kran­ken­haus­perso­nal leistet für unsere Gesellschaft eine großartige Arbeit. (...) Ich möchte deshalb gern etwas zurückgeben.“ Und es folgt eine Bereitschaftsnummer.

Im Angebot sind zehn Sprachen; weltweit stünden 150 Sprachprofis hinter der Fir­ma; die Wartezeit betrüge 15 Minuten.

Für mich ist das ein Ärgernis. Was hier wie eine Geste der Wohltätigkeit da­her­kommt, nimmt anderen das Brot. Ich frage nach. Von welchem Einkommen sie lebe, will ich wissen. Antwort: „Wir als Agentur leben nicht nur vom Te­le­fon­dol­met­schen und wenn wir in der jetzigen Situation etwas ‚zurück geben’ können, dann tun wir das sehr gerne.“ (Schreibweise wie im Original.)

Ich hake nach, frage: „Und was ist jetzt, wenn dadurch freie Dolmetscherinnen und Dolmetscher weniger bezahlte Aufträge bekommen?“ Antwort: „Die Dol­met­scher/in­nen und wir sitzen im selben Boot und helfen gerne.“ Ich wiederhole: „Und wovon zahlen die ihre laufenden Kosten?“ Da mischt sich eine andere Person ein und schreibt: „Könnt ihr besser macht es besser, Menschen haben immer was zu meckern, auch wenn der Gott vor euch steht! Macht man was gutes - schlecht, macht man was schlechtes - schlecht Leben und leben lassen!“ (Schreibweise wie im Original.)

Auf Wand: WE ARE ONE
Alles kommt irgendwann zurück, so oder so
Darauf ich: „Das Wort Solidarität muss großgeschrieben werden und bei allem, was ich mache, muss ich auch an meine Kolleginnen und Kollegen denken. An den Nachbarn, der auch sein Essen kaufen muss.“ Die Unternehmerin spricht am En­de ihr Machtwort: „Wir tun etwas Gutes, das darf gern befürwortet werden oder gar nicht kommentiert werden.“

Nein, Berufsausübung ist per se kein phi­lan­thropes Werk, wir haben studiert und arbeiten, um uns zu finanzieren. Dol­metsch­diens­te im KH werden üb­li­cher­wei­se bezahlt. Ärzte arbeiten derzeit auch nicht kostenlos, nur weil eine Pan­de­mie gras­siert.

Schlimmer noch, mit ihrer Arbeit in unmittelbarer Nähe zum Virus gehen sie große Gefahren ein. 25 bis 30 Prozent der unmittelbar am Patienten Tätigen steckt sich an. Die Liste des gestorbenen medizinischen Personals ist lang.

Sich hier mit ihnen auf eine Stufe stellen zu wollen — sie geben etwas, wir geben zurück — , ist perfide.

Die Unternehmerin kalkuliert so: Wenn ich hier jetzt gratis arbeite, haben bald alle meine Rufnummer gespeichert, auch dann, wenn die Gratiszeit vorüber ist. Ich kann damit meinen Unternehmensgewinn steigern und bekomme Gratis­wer­bung, weil alle Zeitungen berichten.

Wie kann es sein, dass Dolmetscherinnen und Dolmetscher gratis für sie ar­beiten? Bei Agenturen ist außer Projektmanagern, Buchhaltung und Chefs in der Regel niemand festangestellt. Oder wird hier etwa Soforthilfe­geld für Un­ter­ne­hmen ver­wen­det, um in unlauteren Wettbewerb einzutreten? Traurig. Wie im Krieg muss ich mir jetzt merken, wer sich in der Krise wie verhalten hat.


P.S.: Ich gebe derzeit einer Schülerin mit Migrationshintergrund per Bildtelefonie Nachhilfe, ehrenamtlich, ihre Eltern hätten ohnehin nicht genug Geld, um mich zu bezahlen. Ich engagiere mich, um etwas an die Gesellschaft zurückgeben. Ach, der Ausdruck wirkt verbrannt nach dieser Erfahrung.
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Fotos: C.E.

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