Mittwoch, 18. Dezember 2019

Berlin am Meer

Herzlich willkommen beim Web­log aus dem In­ne­ren der Dol­met­scher­ka­bi­ne. Hier schreibt ei­ne Fran­zö­sisch­dol­metscherin über ihre Einsätze in Ber­lin, Paris, Lille und anderswo. 

Pflanzen vor und Möwen hinter dem Fenster
Möwen im Doppelkastenfenster
Jetzt beginnen die Tage au­ßer­halb der Ka­bi­ne: Ver­wal­tungs­kram steht an, Vo­ka­bel­lis­ten sind zu er­gän­zen, und das ein­ge­sam­mel­te Ma­te­rial landet gro­ßenteils in den Reißwolf. Die Beine sind im Büro, der Kopf plötzlich am Meer.

Berlin kann so schön sein. Gerade füt­tert wieder je­mand am Ufer die Möwen (was eigent­lich nicht so toll ist fürs Ka­nal­was­ser). Das beschert uns hier eine Klang­land­schaft, als wohnten wir am Hafen, als würden eben die Fisch­kutter von hoher See zu­rück­keh­ren. Ich schmecke das Jod der See­luft und spüre Sand zwi­schen den Ze­hen. Das hat was: Berlin-sur-mer (siehe Titel dieses Blogposts). Und gleich fällt mir Tucholsky ein.

Kurt Tucholsky
DAS IDEAL

Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn —
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.

Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:

Neun Zimmer — nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentralheizung, Vakuum,
eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm,
eine süße Frau voller Rasse und Verve —
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve) — 
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.

Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad — alles lenkste
natürlich selber — das wär ja gelacht!
Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.

Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche – erstes Essen —
alte Weine aus schönem Pokal —
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.

Ja, das möchste!

Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten —
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.

Etwas ist immer.
Tröste dich.

Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat:
das ist selten.

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Foto: C.E.  
Gedicht von 1927

2 Kommentare:

Katharina hat gesagt…

Vielen Dank für das Gedicht - es wird wohl immer aktuell bleiben...
Ah, und schön ist es, wenn man so ein paar luftige Zeilen, die gerade einfach gut passen und zu einem sprechen, auf dem Tablett serviert bekommt, ich wiederhole mich gern:
Vielen Dank!

caro_berlin hat gesagt…

You are welcome!