Samstag, 9. November 2019

Der blaue Wintermantel

Bonjour, hello, guten Tag. Hier bloggt eine Übersetzerin und Dolmetscherin (Schwerpunkt DE und FR). In meinem Arbeitstagebuch schreibe ich über Sprache, Länder und Leute. Heute: Wie ich beinahe den Mauerfall verpasst hatte, obwohl ich damals als Pariser Studentin den Novemberanfang in Berlin verbracht habe.

Mauer in Kreuzberg, September 1989
Plötzlich hing er an einem Klei­der­stän­der auf der Stra­ße, der tauben­blaue Man­tel aus dicker Wolle mit Kasch­mir mit wun­derbar großen Knöp­fen und einem brei­ten Kragen zum Hoch­schla­gen.
Er wirkte ebenso zeitlos wie modisch. Auf den ersten Blick schien er mir trotz­dem unpas­send und zu winterlich für den Herbst zu sein.

Denn seit Wochen war es für die Sai­son zu warm ge­we­sen. In Leip­zig und auch Ber­lin gingen Menschen­mas­sen auf die Straße, die vielleicht bei schlechten Wit­te­rungs­be­din­gun­gen weniger groß gewesen wären.

Eigentlich brauchte ich so ein dickes Möbel nicht. In Paris, wo ich da­mals studiert habe, waren die Winter milder. Aber wer wusste denn schon, wie sich das Wet­­ter in die­sem No­vem­ber ent­wickeln würde. Auf dem Weg ins Literatur­haus in der Fa­sa­nenstraße war die Preis­re­duk­tion von 200 auf 49 DM schließlich aus­schlag­ge­bend.

Damals habe ich im vierten Jahr in Paris studiert und steckte in einer Phase, in der ich nur mit halbem Tempo studiert habe. Seit meinem Berufs­prak­ti­kum Sommer 1988 war ich eine der jüngs­ten freien Mitar­beiterinnen des Sen­der Freies Berlin (wenn nicht die jüngste). Im Som­mer die­ses Jahres hatte ich offiziell als Kul­tur­kor­res­pon­den­tin aus Paris über die Zwei­hun­dert­jahr­feiern der Franzö­sischen Re­vo­lu­tion berichtet.

Da fand in der Woche ab dem 6. November in Berlin eine Hörspiel­konferenz statt, die "Hörspieltage", ich also hin. In der wunderschönen Litera­tur­haus­villa in Ku­damm­nä­he haben wir den ganzen Tag Hör­spiele gehört und diskutiert. An­schlie­ßend sind wir nicht selten zusammen essen gegangen.

Am Abend hat mich eine Redakteurin im Wagen Rich­tung Kreuz­berg mitge­nommen. Im Autoradio kam etwas mit Ber­lin, Grenze, Öffnung, Menschen­mas­sen ... Wir so: "Och, nicht schon wieder Hör­spiel, davon hatten wir den Tag über genug!" Radio aus.

September 1989, auch Kreuzberg
Als ich der WG ankam, die mich beherbergt hatte, fand ich einen Zet­tel auf dem Kü­chen­tisch vor: "Mauer offen, Tref­fen wir uns an der Hein­rich-Hei­ne-Straße". Damals gab es ja noch kei­ne Mobil­telefone. Im ein­ge­mau­erten Berlin war es möglich, wenn man immer an der Wand ent­lang­ging, ein­an­der ver­ab­re­de­ter­wei­se an einem öf­fent­li­chen Ort zu treffen.

Die halbe Nacht ver­brac­hten wir dort, später ging's ans Brandenburger Tor. Ich erlebte die Nacht zwischen hys­te­ri­schem Lachen und Weinen. Außerdem rat­ter­ten mir wie in einer münd­lichen Geschichts­prüfung sämtliche relevanten Ereig­nisse deutscher Geschichte an neun­ten No­vem­bern durch den Kopf. Dazu kamen drei Tril­lio­nen üble Vorahnungen und mit­ge­fühl­tes Leid über so viele angehaltene, zerstörte, erschwerte Lebens­we­ge. Bis ins späte Frühjahr 1990 hatte ich sogar noch Angst vor einem Putsch der DDR-Ge­heim­dienste.

Der blaue Man­tel hat mich schön gewärmt in dieser Nacht. Einen Tag später saß ein Freund aus dem Osten am Kreuz­berger WG-Tisch und ist mitten im Er­zäh­len ein­ge­schlafen. Aber das ist eine andere Ge­schich­te.

______________________________  
Foto: C.E. (Archiv)

1 Kommentar:

Wolfram Roger hat gesagt…

Oh die Geschichte gefällt mir. Heute zufällig gefunden. Diesen Blog finde ich sehr spannend und anregend. Schön, wenn frau/man sowas Neues entdeckt! Viel Erfolg!!