Mauer in Kreuzberg, September 1989 |
Er wirkte ebenso zeitlos wie modisch. Auf den ersten Blick schien er mir trotzdem unpassend und zu winterlich für den Herbst zu sein.
Denn seit Wochen war es für die Saison zu warm gewesen. In Leipzig und auch Berlin gingen Menschenmassen auf die Straße, die vielleicht bei schlechten Witterungsbedingungen weniger groß gewesen wären.
Eigentlich brauchte ich so ein dickes Möbel nicht. In Paris, wo ich damals studiert habe, waren die Winter milder. Aber wer wusste denn schon, wie sich das Wetter in diesem November entwickeln würde. Auf dem Weg ins Literaturhaus in der Fasanenstraße war die Preisreduktion von 200 auf 49 DM schließlich ausschlaggebend.
Damals habe ich im vierten Jahr in Paris studiert und steckte in einer Phase, in der ich nur mit halbem Tempo studiert habe. Seit meinem Berufspraktikum Sommer 1988 war ich eine der jüngsten freien Mitarbeiterinnen des Sender Freies Berlin (wenn nicht die jüngste). Im Sommer dieses Jahres hatte ich offiziell als Kulturkorrespondentin aus Paris über die Zweihundertjahrfeiern der Französischen Revolution berichtet.
Da fand in der Woche ab dem 6. November in Berlin eine Hörspielkonferenz statt, die "Hörspieltage", ich also hin. In der wunderschönen Literaturhausvilla in Kudammnähe haben wir den ganzen Tag Hörspiele gehört und diskutiert. Anschließend sind wir nicht selten zusammen essen gegangen.
Am Abend hat mich eine Redakteurin im Wagen Richtung Kreuzberg mitgenommen. Im Autoradio kam etwas mit Berlin, Grenze, Öffnung, Menschenmassen ... Wir so: "Och, nicht schon wieder Hörspiel, davon hatten wir den Tag über genug!" Radio aus.
September 1989, auch Kreuzberg |
Die halbe Nacht verbrachten wir dort, später ging's ans Brandenburger Tor. Ich erlebte die Nacht zwischen hysterischem Lachen und Weinen. Außerdem ratterten mir wie in einer mündlichen Geschichtsprüfung sämtliche relevanten Ereignisse deutscher Geschichte an neunten Novembern durch den Kopf. Dazu kamen drei Trillionen üble Vorahnungen und mitgefühltes Leid über so viele angehaltene, zerstörte, erschwerte Lebenswege. Bis ins späte Frühjahr 1990 hatte ich sogar noch Angst vor einem Putsch der DDR-Geheimdienste.
Der blaue Mantel hat mich schön gewärmt in dieser Nacht. Einen Tag später saß ein Freund aus dem Osten am Kreuzberger WG-Tisch und ist mitten im Erzählen eingeschlafen. Aber das ist eine andere Geschichte.
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Foto: C.E. (Archiv)
1 Kommentar:
Oh die Geschichte gefällt mir. Heute zufällig gefunden. Diesen Blog finde ich sehr spannend und anregend. Schön, wenn frau/man sowas Neues entdeckt! Viel Erfolg!!
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