Wie Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen arbeiten, erfahren Sie
hier. Meine Arbeitssprachen sind Französisch und Deutsch
(Muttersprache) sowie Englisch. Manchmal kommen wir uns wie einsame
Artistinnen unter der Zirkuskuppel vor, wir dürfen gleichzeitig
zuhören, sprechen und atmen, das ist schon mal wie auf einem Einrad
zu fahren, während wir jonglieren und einen Hut auf dem Kopf
balancieren. Und das alles, ohne die Bodenhaftung zu verlieren!
So hätte Matisse uns (vielleicht) gesehen |
Meine Kollegin und ich lauerten am Eingang auf die Ankunft der letzten Vortragenden.
Wie leider so oft fehlten uns einige Präsentationen oder Manuskripte, die für die Arbeit wichtig sind.
Draußen kündigte sich ein Gutwettertag an. Der Hausmeister ließ die Jalousien herunter und nahm uns damit die 1A-Aussicht auf das Baugerüst, das vor der Fassade stand. "Immer schade, ganze Tage ohne Sonne zu verbringen", dachte ich. Noch 40 Minuten waren es bis Veranstaltungsbeginn.
Wenig später ging ich in den noch leeren Kongresssaal, setzte mich in der Kabine, um etwas nachzuschlagen, da machte es einmal lautstark "rumms!" und plötzlich fiel Sonne auf meine Tastatur. Draußen, also vor der Scheibe der Box, war Herbstnebel zu sehen. Eine Sirene ertönte. Da stand auch schon Hausmeister in der Dolmetschkabine und riss mich mit sich.
In der Halle große Aufregung. Die Bauarbeiten hatten einen Teil des Flachdachs über dem Kongresssaal zum Einstürzen gebracht. Kurz darauf waren wir von Leuten von der Feuerwehr umringet. Meine Kollegin bat seelenruhig darum, unsere Sachen aus der Dolmetschkabine holen zu dürfen, denn der Kongresstechniker neben uns orderte bei seinem Mitarbeiter bereits einen Satz mobiler Konferenztechnik. Jemand reichte mir Feuchttücher an, damit ich mir den Staub von den Schuhen abwischen konnte. Noch 31 Minuten bis Veranstaltungsbeginn.
Die Veranstalterin gab derweil Anweisungen, die Konferenz in den Gastraum der Kantine im anderen Gebäudeteil zu verlegen. Etliche der Kongressgäste hatten, wenn sie nach dem Alarmton eingetroffen waren, gar nicht bemerkt, was passiert war. Sie wunderten sich nur, dass andere Kongressgäste mit Stühlen in der Hand der flugs aufgestellten Beschilderung zur Kantine folgten. Vor Ort rückten alle zusammen, die Tische stapelten sich im Nebenraum, die Mitarbeiter:innen des Konferenzorts waren schnell gewesen. Auch die mobile Technik kam kurz darauf an, wir Dolmetscherinnen richteten uns ein und schlugen Begriffe nach, eine Präsentation kam neu rein, das Wlan reichte bis hierher.
Fünf vor Opening. Irgendetwas pfeift hier aber fies! Der Veranstaltungstechniker dreht flugs einer überdrehten Kaffeemaschine den Saft ab, da wird die Tür aufgerissen. Auftritt eine kleine Feuerwehrfrau mit überraschend tiefer Stimme: "Die Kantine ist ab sofort feuerpolizeilich gesperrt, die Erschütterungen haben die Gasleitung der Küche beschädigt." Der Kongress steht auf wie ein Mann (oder eine Frau), alle verlassen geordnet den Raum. Es hat sich angefühlt, als wäre heute Umzugsstress unser ständiger Begleiter.
Aber Glück im Unglück, denn der Hausmeister hatte offenbar einen kurzen Informationsvorsprung genutzt: Wir verließen also die wilden Gefilde des (vor unserem Eintreffen erschütterten) Kongresszentrums, er begleitete uns über die Straße in ein anderes Gebäude. Hier befinden sich in einem unscheinbaren Quergebäude die Werkstätten und das Stuhllager des Kongresszentrums, Letzterer kleiner als der Speisesaal. Es war zehn nach Veranstaltungsbeginn.
Nach etwas Stühlerücken, dieses Mal haben alle mit angepackt, und erneutem Aufbau der mobilen Konferenztechnik waren alle da und mit unter vierzig Minuten Verspätung ging's los. Etwas beengt saßen wir dort und ohne Beamer, also ohne PowerPointPräsentationen.
An diesem Tag sprachen (bis auf einen Redner) alle frei, zum Mitdenken, für Rückfragen offen, waren wunderbar zu verdolmetschen, in der Mittagspause saßen wir an Biertischen und -bänken im Hof. In der surrealen Situation wurden nicht nur die Krawattenknoten gelockert, die Stimmung war gut — und wir hatten sogar das Glück, bei der Arbeit direkt auf einen Baum in einem sonnenbeschienenen Hinterhof zu sehen!______________________________
Illustration: Dall:e (bearbeitet)
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