Donnerstag, 7. Dezember 2023

Der Kongress als Wanderzirkus

Wie Über­setzer:in­nen und Dol­met­scher:in­nen ar­bei­ten, erfahren Sie hier. Meine Arbeits­sprachen sind Fran­zö­sisch und Deutsch (Mutter­sprache) sowie Englisch. Manch­mal kommen wir uns wie einsame Artis­tin­nen unter der Zir­kus­kup­pel vor, wir dürfen gleich­zei­tig zuhören, spre­chen und at­men, das ist schon mal wie auf einem Ein­rad zu fah­ren, wäh­rend wir jong­lieren und einen Hut auf dem Kopf ba­lan­cieren. Und das alles, ohne die Bo­den­haf­tung zu ver­lie­ren! 

Zwei weibliche Figuren, Kopfhörer, Mikrofone, Fenster mit Baum
So hätte Matisse uns (vielleicht) gesehen
In die­sem ver­län­ger­ten Herbst die­ses Jahr ge­riet so­gar eine ge­samte Ver­an­stal­tung ir­gend­wie zir­zen­sisch. Ir­gend­wo in Euro­pa: Wir hat­ten uns recht früh am Mor­gen in einem mo­der­nen Kon­fe­renz­saal ein­ge­rich­tet, die Tech­nik ge­prüft, das Pub­li­kum stand im Foyer, teils an den Ak­kre­di­tie­rungs­ti­schen, teils bei einer Tasse Kaffee in klei­nen Men­schen­trauben, be­reit für ei­nen pro­duk­ti­ven Tag des Wis­sens­aus­tauschs.

Meine Kol­le­gin und ich lau­erten am Ein­gang auf die An­kunft der letz­ten Vor­tra­gen­den. 

Wie lei­der so oft fehl­ten uns eini­ge Prä­sen­ta­tio­nen oder Ma­nus­kripte, die für die Arbeit wich­tig sind.

Drau­ßen kün­dig­te sich ein Gut­wet­ter­tag an. Der Haus­meis­ter ließ die Jalousien her­un­ter und nahm uns da­mit die 1A-Aussicht auf das Bau­ge­rüst, das vor der Fas­sade stand. "Im­mer schade, ganze Tage ohne Sonne zu ver­brin­gen", dachte ich. Noch 40 Mi­nu­ten waren es bis Ver­an­stal­tungs­be­ginn.

Wenig spä­ter ging ich in den noch lee­ren Kon­gress­saal, setzte mich in der Ka­bine, um et­was nach­zu­schla­gen, da machte es ein­mal laut­stark "rumms!" und plötz­lich fiel Sonne auf meine Tas­ta­tur. Drau­ßen, also vor der Scheibe der Box, war Herbst­ne­bel zu sehen. Eine Sirene ertönte. Da stand auch schon Haus­meis­ter in der Dol­met­sch­ka­bine und riss mich mit sich.

In der Halle große Auf­re­gung. Die Bau­ar­beiten hat­ten ei­nen Teil des Flach­dachs über dem Kon­gress­saal zum Ein­stür­zen ge­bracht. Kurz da­rauf wa­ren wir von Leu­ten von der Feu­er­wehr um­rin­get. Meine Kol­le­gin bat see­len­ruhig darum, un­sere Sa­chen aus der Dol­met­sch­ka­bine ho­len zu dür­fen, denn der Kon­gress­tech­ni­ker neben uns or­der­te bei seinem Mit­ar­bei­ter be­reits ei­nen Satz mo­bi­ler Kon­fe­renz­tech­nik. Jemand reichte mir Feucht­tücher an, damit ich mir den Staub von den Schuhen ab­wi­schen konnte. Noch 31 Mi­nu­ten bis Ver­an­stal­tungs­be­ginn.

Die Ver­an­stal­te­rin gab der­weil An­wei­sun­gen, die Kon­fe­renz in den Gas­traum der Kan­tine im an­de­ren Ge­bäu­de­teil zu ver­le­gen. Etliche der Kon­gress­gäste hat­ten, wenn sie nach dem Alarm­ton ein­ge­trof­fen waren, gar nicht be­merkt, was passiert war. Sie wun­der­ten sich nur, dass an­de­re Kon­gress­gäste mit Stühlen in der Hand der flugs auf­ge­stell­ten Be­schil­de­rung zur Kan­tine folgten. Vor Ort rückten alle zu­sam­men, die Tische sta­pel­ten sich im Nebenraum, die Mit­ar­bei­ter:in­nen des Kon­fe­renz­orts wa­ren schnell ge­we­sen. Auch die mo­bile Tech­nik kam kurz da­rauf an, wir Dolmet­scherinnen rich­te­ten uns ein und schlu­gen Begriffe nach, eine Prä­sen­ta­tion kam neu rein, das Wlan reichte bis hierher.

Fünf vor Ope­ning. Irgend­et­was pfeift hier aber fies! Der Ver­an­stal­tungs­tech­ni­ker dreht flugs einer über­dreh­ten Kaffee­ma­schine den Saft ab, da wird die Tür auf­ge­ris­sen. Auf­tritt eine kleine Feu­er­wehr­frau mit über­ra­schend tiefer Stimme: "Die Kan­tine ist ab so­fort feuer­po­li­zei­lich ge­sperrt, die Er­schüt­te­run­gen ha­ben die Gas­lei­tung der Kü­che be­schä­digt." Der Kon­gress steht auf wie ein Mann (oder eine Frau), alle ver­las­sen ge­ord­net den Raum. Es hat sich an­ge­fühlt, als wäre heute Umzugs­stress unser stän­diger Be­glei­ter.

Aber Glück im Un­glück, denn der Haus­meis­ter hatte of­fen­bar einen kurzen In­for­ma­tions­vor­sprung ge­nutzt: Wir ver­lie­ßen also die wil­den Ge­filde des (vor un­se­rem Ein­treff­en er­schüt­ter­ten) Kon­gress­zen­trums, er be­glei­te­te uns über die Straße in ein an­de­res Ge­bäu­de. Hier be­fin­den sich in ei­nem un­schein­ba­ren Quer­ge­bäu­de die Werk­stät­ten und das Stuhl­lager des Kon­gress­­zen­trums, Letz­te­rer klei­ner als der Speise­saal. Es war zehn nach Ver­an­stal­tungs­be­ginn.

Nach et­was Stühle­rücken, dieses Mal haben alle mit an­ge­packt, und er­neu­tem Auf­bau der mo­bi­len Kon­fe­renz­tech­nik wa­ren alle da und mit un­ter vierzig Mi­nu­ten Ver­spä­tung ging's los. Etwas be­engt sa­ßen wir dort und ohne Beamer, also ohne Power­Point­Prä­sen­ta­tio­nen.

An die­sem Tag spra­chen (bis auf ei­nen Redner) alle frei, zum Mit­denken, für Rück­fra­gen of­fen, wa­ren wun­der­bar zu ver­dol­metschen, in der Mit­tags­pause sa­ßen wir an Bier­tischen und -bän­ken im Hof. In der sur­re­a­len Si­tua­ti­on wur­den nicht nur die Kra­wat­ten­knoten ge­lockert, die Stim­mung war gut — und wir hat­ten so­gar das Glück, bei der Ar­beit di­rekt auf ei­nen Baum in ei­nem son­nen­be­schie­ne­nen Hin­ter­hof zu sehen!

______________________________
Il­lus­tra­tion:
Dall:e (be­ar­bei­tet)

Keine Kommentare: