Freitag, 18. Dezember 2015

Typischer Bürotag

Hallo und guten Tag auf den Sei­ten des ersten Blogs Deutsch­lands aus dem In­ne­ren der Dol­met­scher­ka­bi­ne. Wenn ich nicht in Paris, Berlin oder sonstwo meine Stim­me verleihe, sitze ich am Übersetzerschreibtisch. Gestern war ein typischer Bü­ro­tag. Protokoll.

Die letzte Woche habe ich im Kino gewohnt, sozusagen, denn es gab eine dichte Reihe von Vorabpremieren. Zwischendurch musste ich noch eilig zu Kunden, so dass ich nicht auf den Wochenmarkt vor dem Haus gehen konnte. Das ist als Vor­rede wichtig. Es gibt Tage, da kommt das Privatleben zu kurz. Hier mein Protokoll vom Donnerstag.

Internetradio
0.30 Uhr, Rückkehr vom Ki­no, rasch ins Bett.
6.30 Uhr, der Schorn­stein­fe­ger ruft an und möchte einen Termin noch vor Jahresende haben. (Kann auch sein, dass es gestern war. Ich muss ihn noch zurückrufen, Therme reinigen lassen.)
8.20 Uhr, die Küche hat Tee, Obst und einen Rest Müsli zu bieten. Ich frühstücke leicht.
9.00 bis 14.00 Uhr, Drehbuchlektorat. Zwischendurch muss ich mein Hirn lockern und hänge kurz in der Kaffeeküche bei den Textinen (www.texttreff.de) und auf Facebook ab. So gehen Pausen mit Kollegenschnack unter Freiberuflern heute, die im Home Office arbeiten.

14.00 bis 15.00 Uhr, Mittagessen (pakistanisch), dann Verdauungsspaziergang, beim Gehen höre ich eine politische Radiosendung von France Culture.
15.15 bis 15.45 Uhr, Mittagsschlaf (großer Luxus).

15.45 bis 16.15 Uhr, Blogeintrag verfassen und hochladen.
16.15 bis 16.45 Uhr, Kostenvoranschlag für Januar schreiben (kompliziertes Kon­gress­pro­gramm).
16.45 bis 18.00 Uhr, Englischstunde.
18.00 bis 18.30 Uhr, Kontakt mit einer deutschen Autorin, die in Lateinamerika lebt und für die ich auf Französisch Texte zu einem Wirtschaftsthema lese. Klären der Fragestellung, lesen eines Kapitels, Anmerkungen notieren.

18.30 bis 19.20 Uhr, der Schneideraum ruft an (und ich dachte noch, ich dürfte hin), es geht um den Feinschliff eines Films, bei dem ich inhaltlich und sprachlich beteiligt war. Wir gehen meine Anmerkungen Punkt für Punkt durch, schneiden zwei Sätze wie­der rein, die der Regisseur rausgenommen hatte, die aber zu leise mitschwingen und die daher gefehlt haben: Die Gram­­ma­­tik und die Logik gesprochener Sprache haben das notwenig gemacht.

An einer Stelle sagt die Interviewte, es handelt sich um die Krimiautorin Do­mi­nique Manotti, ein "donc", was als Wörtchen eine Zusammenfassung einleitet, an dieser Stelle aber nicht passt, weil sie kurz davor gar nicht so viel gesagt hat und sich das "donc" auf das Vorgespräch bezieht. Wir schneiden es raus. An einer an­de­ren Stelle macht sie einen inhaltlichen Sprung, der für uns im In­ter­view­kon­text logisch war, denn wir hatten das Thema erst beim Mittagessen vertieft, aber nicht unbedingt für die Zuschauer. Wir schneiden eine winzige Pause in die Antwort rein.

Der Sound über das Telefon ist nicht optimal. Ich protokolliere die Schnitt­än­de­run­gen, ergänze die Übersetzungen, sende die neue Fassung an Regie und Produktion.

19.30 bis 20.10 Uhr, Paraguay meldet sich via Skype, die Autorin mit dem Wirt­schafts­the­ma. Ich referiere eine Akte, wir brainstormen weiter. Am Ende habe ich eine Liste mit Kontakten und Zitaten für sie. Und lese die Akte morgen früh fri­schen Kopfes nochmal und fasse für sie zusammen.

Aus der Studienzeit
20.15 Uhr, ich eile in die Küche. Dort herrscht gäh­nen­de Leere. Nudeln sind noch da. Das Pestogläschen aus dem 2014-er Weihnachts-Carepaket eines Kunden be­kom­me ich ohne starken Mann nicht auf. Also gibt es "Stu­den­ten­fut­ter" der anderen Art, Nudeln à la bonne fran­quet­te.

Das bedeutet, was der Kühlschrank so hergibt: Parmesanknust, eingelegte und zuvor sonnengetrocknete Tomaten, schwarze Oliven und Olivenöl, dazu ein Gläs­chen Rotwein. Resteessen. Beim Kochen mache ich France Culture an und bin kurz erschrocken: Diese Sätze von Dominique Manotti hab ich ja gar nicht über­setzt! Muss ich das noch nachholen für den Film? Erst langsam sickert in mein Be­wusst­sein durch, dass ich ein Hörfunkinterview höre.

Um wieder ins Kino zu rennen, ist es jetzt zu spät (und ich will keinen Stress), auch wenn die Vorführung im Centre Français de Wedding erst nach neun Uhr an­fängt. Wenn ich dort aufgeschlagen wäre, hätte ich wohl Jean-Pierre Bekolo im Ge­spräch über seinen Film Les saignantes dolmetschen dürfen, einen Science-Fiction-Politthriller. AfricAvenir, einer meiner Lieblingsvereine, zeigt regelmäßig Kinofilme aus Afrika, zum Glück bin ich da nicht die einzige zumeist ehrenamtliche Dolmetscherin. Stattdessen höre ich ...

21.05 bis 22.00 Uhr Jazzfacts auf Deutschlandfunk, Benjamin Schaefer, Album Quiet Fire (Link zu einer Hörprobe). In der Radiosendung laufen Stücke, die Motive aus Gaspard de la nuit (Ravel) aufgreifen. Dazu lese ich Kästner über Berlin. Vor dem Schlafengehen um elf habe ich noch eine weitere halbe Stunde Pri­vat­le­ben.

Eigentlich war das ein halbwegs normaler Achtstundentag. Aber Spracharbeit strengt den Kopf stärker an, und rasche Themenwechsel sind auch nicht ohne. Nor­ma­ler­wei­se arbeite ich um die sechs Stunden an Neuem, zwei Stunden an Wie­der­ho­lun­gen, wozu auch Sprachunterricht und das (erneute) Hören von ar­beits­re­le­van­ten Hörfunksendungen zählt. Was gefehlt hat: Zeitung lesen, Wortfeldarbeit, Sport, Socializing. Das kommt Freitag dran.


Vokabelnotiz
dîner à la bonne franquette  — ein schlichtes Mahl einnehmen
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Illustration: C.E.
Photo: Guillaume Weil

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