Leseidylle |
Mit uns freut sich derjenige, für den wir dolmetschen. Ich sollte ihn vielleicht nicht "Kunde" nennen, sondern Klient, um das andere Wort frei zu haben. Hier der Versuch der Ausdifferenzierung: Der Klient ist jener, mit dem ich die meiste Zeit verbringe, der Kunde derjenige, der am Ende zahlt. (Das Gleiche gilt natürlich für die Klientin, die Kundin usw., der einfacheren Lesbarkeit wegen variiere ich sparsam.)
Oft weiß der Kunde nicht, was im Raum mit dem Klienten stattfindet. Das ist schade. So kommt es zu Anfragen wie dieser, die ich gerade auf dem Schreibtisch liegen habe. Dolmetschen soll ich ein längeres Interview, das ein Journalist im Auftrag eines renommierten Verlags führen wird. Der Verlag steht sehr gut im Geschäft, die Publikation ist erfolgreich.
Mir wird für das zweistündige Gespräch ein Honorar von 100 Euro angeboten. Der Ort, an dem das Gespräch stattfinden soll, ist ein kleines, feines Luxushotel im Grunewald. Für eine Strecke dorthin gibt mir die digitale BVG-Anfrage eine durchschnittliche Reisezeit von 68 Minuten an. Mit dem üblichen Puffer auf dem Hinweg rechne ich 30+136, also knapp drei Stunden Fahrtzeit. Ich rechne weiter: Vorgespräch mit dem Interviewer (so erbeten): 15-20 Minuten, plus anderthalb Stunden Interview, ich bin jetzt bei 273,50 Minuten.
Dazu kommt noch das Buch, um das es gehen soll, das mir der Verlag kostenfrei zuschicken wird. Konservativ geschätzt brauche ich 15 Stunden, um es zu lesen und zu verarbeiten. Zum Glück kenne ich frühere Werke der zu interviewenden Persönlichkeit. Trotzdem würde ich vorher noch das eine oder andere kurz zur Hand nehmen, also sagen wir mal 2,5 Stunden lang.
Ich lande bei einem Gesamtaufwand 22,06 Stunden. Rechne ich großzügig 100 Euro durch 20 Stunden, dann komme ich auf grandiose 4,42 Euro pro Stunde. Fürstlich. Logisch, das Luxushotel im Südwesten der Stadt will ja auch bezahlt sein. Und im Grunde arbeite ich ohnehin nur zum Zwecke meiner Allgemeinbildung, warum soll dafür ein Großverlag aufkommen?
Ach so, noch ein O-Ton des Kunden: "Sie müssen das Buch doch nicht lesen, Durchblättern reicht völlig." Ob das der Klient weiß? Hm, vielleicht ist die Differenzierung Klient/Kunde auch nicht sinnvoll, die Begriffe sind zu nah, können zu rasch verwechselt werden und derlei Differenzierung kennen Anwälte und Psychologen nicht. Der Text hier ist ein Versuchsballon, vielleicht fällt ja einer Leserin oder einem Leser ein besserer Begriff ein. Die Diskussion ist eröffnet.
Und für alle, denen die Pointe noch unklar ist: Dolmetschen lebt von Vorbereitung. Die Zeiten, in denen wir sichtbar sind, können wie hier einen Bruchteil des Gesamtaufwandes darstellen. Und ich bin natürlich nicht in den Grunewald gefahren. Stattdessen habe ich mein Abo bei besagtem Periodikum gekündigt. Ich lese es lieber in der Beiz um die Ecke, da hat wenigstens auch die heimische Wirtschaft was davon.
P.S.: Mein Kostenvoranschlag sähe anders aus. Ich würde alles zu 100 % rechnen, auch die Fahrtzeiten, aber die Lesezeit nur zur Hälfte, denn ich kann Lesearbeit einschieben, wenn ich sonst Leerlauf habe, es blockiert keine gutbezahlten Kabinentage. So komme ich auf einen Gesamtaufwand von 12,56 Stunden.
Da wir als Konferenzdolmetscherinnen in der Regel sechs Stunden pro Tag dolmetschen, komme ich hier auf zwei Tage. Einen "Mengenrabatt" kann ich für gute Kunden schon ab dem zweiten Tag geben, so dass ich mit 1400 Euro zu verhandeln anfangen und nicht unter 1200 gehen würde, denn mein Output ist ja zur Veröffentlichung bestimmt, im Grunde müsste ich eine Urhebervergütung von mindestens 25 % aufs Honorar draufschlagen. (Notiz an mich: Das so als Rechnung mit einem höheren Grundrabatt auszuweisen, ist sicher psychologisch kein schlechtes Argument.) Korrekturlesen vor Drucklegung würde ich mit 75 Euro die Stunde berechnen. Das sind realistische Preise, die im oberen Mittelfeld des Marktes liegen.
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Foto: C.E. (Hotelbibliothek in Schwerin)
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