Ernst Heilmann beobachtet alles scharf |
Die Dame kommt aus Paris, sie ist (noch) die Präsidentin von Eaux de Paris. Das ist kein Parfumlabel, sondern das 2010 rekommunalisierte Pariser Wasserwerk. Darum geht heute, denn Berlin hat zu Jahresanfang auch seine Wasserbetriebe wieder in die öffentliche Hand übernommen.
Erst sitze ich, dann stehe ich am Rand des langen Sitzungsraums. Auf einem Tisch in Nähe der Schmalseite habe ich mir "Spickzettel" zurechtgelegt.
Die ganze Liste mit Fachwortlexik zumfasst zehn Blatt, zwei Seiten für Firmenbezeichnungen und Akronyme und jeweils vier Seiten je Sprachrichtung. Vor mir ausgebreitet liegt alles aus dem Deutschen in Französische, denn die Rückrichtung, also die deutschen Partien, übernimmt eine Kollegin konsekutiv, also zeitversetzt, während ich mit einem kleinen Dolmetschkoffer für drei französischsprachige Menschen im Raum via Kopfhörer simultan flüstere.
Die Dame vorne sieht noch immer nicht zufrieden aus. Das erschrickt mich. Wir Dolmetscher sind dünnhäutig. Oder so: Da unsere ganze Energie in die Sprache geht, können wir andere Beobachtungen und Empfindungen nicht filtern oder zuordnen. Sie kommen direkt und mit voller Wucht bei uns an. Und wenn dann Leute mit uns "verkabelt" sind und wir für sie übertragen, verbindet so ein armes Dolmetscherhirn natürlich das, was es sieht, hier: den Unmut, mit dem eigenen Output.
Die Unklarheit mit assainissement kann es nicht schon wieder sein. Bei der Sitzung war nämlich überraschenderweise sehr viel von Rohrsanierungen die Rede gewesen, Sanierung des Ver- und Entsorgungsnetzes und was in Berlin anfällt, 14.000 SK1A-Fälle haben die Fachleute gezählt, Schadensklassenfälle höchster Dringlichkeitsstufe. Hier war meine Verdolmetschung stellenweise zunächst etwas unklar gewesen, was ich an Madames Reaktionen gespürt habe, denn assainir bedeutet sowohl die Sanierung von etwas als auch die Wasseraufbereitung.
Trink- und Abwasser müssten logischerweise eaux potables et d'assainissement heißen, aber es ist mal wieder komplizierter.
Auf Wasserwerksfranzösisch steht eaux oft für Frischwasser und assainissement verkürzt für Abwässer, die hier wiederum auf Deutsch stärker ausdifferenziert werden als in der Sprache Molières. Das führt zur parallelen (und zum Teil synonymalen) Verwendung so schöner Begriffe wie Abwasser, Grauwasser, Niederschlagswasser, Mischwasser, Schmutzwasser und Schwarzwasser.
Ich hatte mich beim Lernen schon an dieser Besonderheit und der Schräglage abgearbeitet, dass das Material der Franzosen da nicht so extrem genau ist; und die ganze Misch- und Trennkanalisationsfrage wäre komplett an mir vorbeigegangen, hätten wir nicht seit über einem Jahr dazu eine Baustelle direkt vor dem Haus.
Madame verzieht weiter das Gesicht. Ich muss das jetzt verdrängen, denn am Ende des Saals steht ein bärtiger Mann auf und fängt an, einen Kommentar abzugeben, aus dem sich drei Fragen ergeben sollten. Er vergisst, sein Tischpult anzuschalten. Wie in solchen Fällen üblich, bleibe ich nicht untätig.
Ich eile in seine Richtung, um ihn besser hören zu können. Das Publikum mahnt das Mikro an, er drückt aufs Knöpfle, spricht aber weiter zu leise.
Plötzlich steht meine Kundin neben mir. Sie hat ihren Platz an der Stirnseite des Saales verlassen und flüstert mir zu: "Ich habe die ganze Zeit so ein schreckliches Knistern in der Leitung!" Ich halte ihr fragend einen Ersatzakku hin, den ich für alle Fälle in der Tasche habe. Neben ihr am Platz hatte ich auch welche ausgelegt und ihr den Austausch der Stromversorgung erklärt. "Daran liegt's nicht", antwortet die Dame, "schon getestet", und verstummt, denn sie nimmt Rücksicht darauf, dass ich die ganze Zeit ja dem Bärtigen folgen muss und ihn gleich weiter verdolmetsche, der sich aus seinem Kommentar langsam zur ersten Frage vorarbeitet.
Dann fällt wieder so ein Technikbegriff. Und täusche ich mich, oder spricht der Herr jetzt noch leiser? Eigentlich müsste ich nun an meinen Tisch mit den Spickzetteln zurückeilen. Andererseits zieht es mich in Richtung Redner, um ihn besser zu verstehen. Aber ich kann doch jetzt nicht wie ein aufgescheuchtes Huhn hin- und herrennen! Schon gar nicht mit der Chefin der Pariser Wasserbetriebe im Schlepptau, wie sieht das denn aus?
Schrecksekunden. Der Buridansche Esel in einer Konfliktlösungssituation.
Ich muss dolmetschen und ja, es gibt immer einen kleinen Zeitverzug zwischen Hören und Sprechen, décalage genannt, dazwischen liegt eigentlich nur das Verstehen und Umsetzen, und ich habe parallel dazu kein Fitzelchen grauer Hirnmasse übrig, um hier eine Lösung zu finden. Zum Glück erkenne ich plötzlich den Redner.
Das macht es mir leichter, ihn direkt anzusprechen: "Bitte geh' näher ans Mikro ran!" Was er dankenswerterweise macht. Ich muss langsam den Satz fertigsprechen, zu dem die passende Vokabel auf dem Tisch mit dem riesigen Spickzettel ... Ich sehe Richtung des rettenden Papiers und erblicke nur das fragende Augenpaar meiner Kundin, die noch immer direkt neben mir steht.
Da fällt mir das fehlende Wort ein. Ich bringe den Satz zuende. An den Rest der Szene erinnere ich mich nicht mehr. Später am Abend waren alle zufrieden.
Vokabelnotiz
Grauwasser — eaux légèrement chargées, eaux usées peu utilisées, auch: eau grise
Niederschlagswasser — eaux de surface et les effluents
P.S.: Das Knistern werden stummgestelle Mobiltelefone verursacht haben.
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Fotos: E. Mortagne für den Berliner Wassertisch
und C.E.