Sonntag, 13. April 2014

Historische Zeitgenossen

Bon­jour auf den Sei­ten mei­nes di­gi­ta­len Ar­beits­ta­ge­buchs aus der Welt der Spra­chen. Hier schreibe ich über meinen Alltag als Übersetzerin und Fran­zö­sisch­dol­met­scherin in Berlin, Paris, Cannes, München, Reims, Hamburg und dort, wo ich gebraucht werde. Sonntags werde ich privat. Heute wage ich den Spagat zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Eine Reihe von Damen und Herren in einem eleganten Salon im ausgehenden 19. Jahrhundert
Nos contemporains unsere Zeitgenossen (ohne Jahreszahl)
Meine Vorfahren waren Garn­händ­ler. Sie haben ihre über meh­re­re Gene­ra­ti­o­nen be­ste­hen­de Fir­ma zu einer Zeit aufgebaut, in der es längst eine Globalisierung gab, die al­ler­dings nur einige Ge­sell­schafts­schich­ten erreichte. Die wirt­schaft­li­chen Kontakte zu Part­ner­un­ter­neh­men im Ausland, vor allem in Frankreich, waren eng und entwickelten sich über die Jahre zu Freundschaften. In der alten Unternehmervilla gibt es bis heute Zeugnisse davon.

Diese Geschichte zu erzählen ist eine große Aufgabe. Es ist weit mehr als eine Samm­lung privater Anekdoten, sondern deutsche und europäische Wirt­schafts­ge­schich­te. Diese großbürgerliche Familie hat sogar in den Kriegen, angefangen beim Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 bis hin zum Ersten Weltkrieg, mit ihren sprach­li­chen und kulturellen Kompetenzen mehr Verbundenheit zu Menschen ihres Standes aus anderen Ländern verspürt als zu den "Eingeborenen" des Landstrichs, in dem sie lebte. Mit vielen Dokumenten und Zeitzeugenschaften der Nach­ge­bo­ren­en ließe sie sich erzählen. Welches Mittel soll ich wählen? Welches Mittel kann ich wählen? Viele Fotos, aber auch Dinge wie Kontorbücher und kleinere Ein­rich­tungs­ge­gen­stände aus dem Büro sind bis heute vorhanden.

Einige Bürogegenstände, u.a. einen Papiersammler aus Holz für Umschläge und Kar­ten oder den Zeitungshalter für die Wand, nutze ich bis heute. Geerbt habe ich auch den französischen Bücherschrank. Die Ahnen reisten oft auch in die französische Haupt­stadt; mit dem Baedeker von der Jahrhundertwende ließ ich mich in den 1980-er Jahren zu Sonntagsausflügen in meiner Studienstadt Paris inspirieren. Die Randnotizen ihrer Bücher, oft auf Französisch, erreichen mich bis heute. Denn eines Tages die französischen Romane im Original lesen zu können, war ein we­sent­li­cher Ansporn für das Lernen. Heute handele ich nicht mit Garnen, sondern mit Wörtern, fühle mich aber in direkter Linie mit diesen Ahnen verbunden.

Alter Zeitungssammler mit Theater heute-Ausgabe, Covegirl ist Sophie Rois, darin abegedruckt: "Die Unvermeidlichen" von K. Röggla
Präsentiert: Publikation mit Stück über Dolmetscher
In der Heimatstadt dieser Familie wird der fürstlichen Vergangenheit des Schlosses gedacht, es gibt in den Sammlungen der Stadt Zeugnisse zu Kunst und Kunst­hand­werk der Region, aber die Geschichte der Tex­til­in­dustrie, die mit dem Ende der DDR zu Ende war, ist kaum dokumentiert, die Geschichte dieser frühen, groß­bür­ger­li­chen Globalisierung gar nicht.
Ob meine Generation es schafft, diese Ge­schich­te zu erzählen und eine Stiftung zu gründen, die das Erbe museal auf­be­rei­tet und es für die nächsten Generationen erlebbar macht? (Und wir werden Zu­stif­ter brauchen. Wie finden wir diese?)

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Fotos: Archiv

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