Mittwoch, 30. April 2014

Im Abgeordnetenaus

Herzlich willkommen auf den Sei­ten des ersten deut­schen Web­logs aus dem In­ne­ren der Dol­met­scher­ka­bi­ne. Hier schreibt ei­ne Fran­zö­sisch­dol­metscherin über ihre Einsätze in Ber­lin, Paris, Cannes und anderswo. Heute: Blick in den Kopf. 

Sitzungssaal, Subjektive vom Dolmetschertisch mit Vokabelliste und Mikro. Gleich geht's los ...
Ernst Heilmann beobachtet alles scharf
Sie sieht nicht zufrieden aus, meine Kundin, die an der Stirnseite eines Sitz­ungsr­aums im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt. Was mache ich gerade falsch?

Die Dame kommt aus Paris, sie ist (noch) die Präsidentin von Eaux de Paris. Das ist kein Parfumlabel, sondern das 2010 re­kom­mu­na­li­sier­te Pariser Wasserwerk. Darum geht heute, denn Berlin hat zu Jahresanfang auch seine Was­ser­be­trie­be wieder in die öf­fent­li­che Hand über­nommen.

Erst sitze ich, dann stehe ich am Rand des langen Sitzungsraums. Auf einem Tisch in Nähe der Schmalseite habe ich mir "Spick­zet­tel" zurechtgelegt.

Die ganze Liste mit Fachwortlexik zumfasst zehn Blatt, zwei Seiten für Fir­men­be­zeich­nungen und Akronyme und jeweils vier Seiten je Sprachrichtung. Vor mir aus­gebreitet liegt alles aus dem Deutschen in Französische, denn die Rückrichtung, also die deutschen Partien, übernimmt eine Kollegin konsekutiv, also zeitversetzt, während ich mit einem kleinen Dolmetschkoffer für drei französischsprachige Menschen im Raum via Kopfhörer simultan flüstere.

Die Dame vorne sieht noch immer nicht zufrieden aus. Das erschrickt mich. Wir Dolmetscher sind dünnhäutig. Oder so: Da unsere ganze Energie in die Sprache geht, können wir andere Beobachtungen und Empfindungen nicht filtern oder zu­ord­nen. Sie kommen direkt und mit voller Wucht bei uns an. Und wenn dann Leute mit uns "verkabelt" sind und wir für sie übertragen, verbindet so ein armes Dol­met­scherhirn natürlich das, was es sieht, hier: den Unmut, mit dem eigenen Output.

Die Unklarheit mit assainissement kann es nicht schon wieder sein. Bei der Sitzung war nämlich überraschenderweise sehr viel von Rohrsanierungen die Rede ge­we­sen, Sanierung des Ver- und Entsorgungsnetzes und was in Berlin anfällt, 14.000 SK1A-Fälle haben die Fachleute gezählt, Schadensklassenfälle höchster Dring­lich­keits­stufe. Hier war meine Verdolmetschung stellenweise zunächst etwas unklar gewesen, was ich an Madames Reaktionen gespürt habe, denn assainir bedeutet sowohl die Sanierung von etwas als auch die Wasseraufbereitung.

Trink- und Abwasser müssten logischerweise eaux potables et d'assainissement heißen, aber es ist mal wieder komplizierter.

Sitzungssaal, Subjektive vom Dolmetschertisch mit Vokabelliste und Mikro. Pause. Die Kollegin dolmetscht ins DeutscheAuf Wasserwerksfranzösisch steht eaux oft für Frischwasser und assainissement verkürzt für Abwässer, die hier wie­der­um auf Deutsch stärker aus­dif­fe­ren­ziert werden als in der Spra­che Molières. Das führt zur parallelen (und zum Teil synonymalen) Verwendung so schöner Begriffe wie Abwasser, Grauwasser, Nie­der­schlags­was­ser, Mischwasser, Schmutz­was­ser und Schwarzwasser.

Ich hatte mich beim Lernen schon an dieser Besonderheit und der Schräglage ab­ge­ar­beitet, dass das Material der Fran­zo­sen da nicht so extrem genau ist; und die ganze Misch- und Trenn­ka­na­li­sa­tionsfrage wäre komplett an mir vor­bei­ge­gangen, hätten wir nicht seit über einem Jahr dazu eine Baustelle direkt vor dem Haus.

Die Doppeldeutigkeit von as­sain­is­se­ment in diesem Kon­text fiel mir beim Sprechen auf (ausgelöst durch Madames Reaktionen). Das Thema wurde bald beendet, denn Eaux de Paris kümmert sich lediglich um die Belieferung mit Frischwasser. Die Ent­sor­gung obliegt dort einem anderen Unternehmen in kommunaler Hand.

Sitzungssaal, an der Wand steht die Autorin dieser Zeilen und gestikuliert ähnlich wie der Redner
Madame verzieht weiter das Gesicht. Ich muss das jetzt verdrängen, denn am Ende des Saals steht ein bärtiger Mann auf und fängt an, einen Kom­men­tar abzugeben, aus dem sich drei Fragen ergeben sollten. Er vergisst, sein Tisch­pult anzuschalten. Wie in solchen Fällen üblich, bleibe ich nicht untätig.

Ich eile in seine Richtung, um ihn besser hören zu können. Das Publikum mahnt das Mikro an, er drückt aufs Knöpfle, spricht aber weiter zu leise.

Plötzlich steht meine Kundin neben mir. Sie hat ihren Platz an der Stirnseite des Saales verlassen und flüstert mir zu: "Ich habe die ganze Zeit so ein schreckliches Knistern in der Leitung!" Ich halte ihr fragend einen Ersatzakku hin, den ich für alle Fälle in der Tasche habe. Neben ihr am Platz hatte ich auch welche ausgelegt und ihr den Austausch der Stromversorgung erklärt. "Daran liegt's nicht", antwortet die Dame, "schon getestet", und verstummt, denn sie nimmt Rücksicht darauf, dass ich die ganze Zeit ja dem Bärtigen folgen muss und ihn gleich weiter verdolmetsche, der sich aus seinem Kommentar langsam zur ersten Frage vorarbeitet.

Dann fällt wieder so ein Technikbegriff. Und täusche ich mich, oder spricht der Herr jetzt noch leiser? Eigentlich müsste ich nun an meinen Tisch mit den Spick­zet­teln zurückeilen. Andererseits zieht es mich in Richtung Redner, um ihn besser zu verstehen. Aber ich kann doch jetzt nicht wie ein aufgescheuchtes Huhn hin- und herrennen! Schon gar nicht mit der Chefin der Pariser Wasserbetriebe im Schlepp­tau, wie sieht das denn aus?

Schrecksekunden. Der Buridansche Esel in einer Konfliktlösungssituation.

Vokabelliste, Wasser, Mikro
Ich muss dolmetschen und ja, es gibt immer einen kleinen Zeitverzug zwischen Hören und Sprechen, décalage genannt, dazwischen liegt eigentlich nur das Verstehen und Umsetzen, und ich habe parallel dazu kein Fitzelchen grauer Hirn­mas­se übrig, um hier eine Lösung zu finden. Zum Glück erkenne ich plötzlich den Redner.

Das macht es mir leichter, ihn direkt anzusprechen: "Bitte geh' näher ans Mikro ran!" Was er dankenswerterweise macht. Ich muss langsam den Satz fer­tig­spre­chen, zu dem die passende Vokabel auf dem Tisch mit dem riesigen Spick­zet­tel ... Ich sehe Richtung des rettenden Papiers und erblicke nur das fragende Augenpaar meiner Kundin, die noch immer direkt neben mir steht.

Da fällt mir das fehlende Wort ein. Ich bringe den Satz zuende. An den Rest der Szene erinnere ich mich nicht mehr. Später am Abend waren alle zufrieden.


Vokabelnotiz
Grauwasser — eaux légèrement chargées, eaux usées peu utilisées, auch: eau grise
Niederschlagswasser — eaux de surface et les effluents

P.S.: Das Knistern werden stummgestelle Mobiltelefone verursacht haben.
______________________________
Fotos: E. Mortagne für den Berliner Wassertisch
und C.E.

Keine Kommentare: