Moment, der sich der Wahrnehmung entzieht |
Dolmetschen ist geistiger Hochleistungssport. Damit keine dauerhaften Schäden an den neuronalen Schaltungen entstehen, wechseln wir uns in der Kabine alle 20 bis 30 Minuten ab. Einsätze als Solo-Dolmetscherin, z.B. beim Aushandeln eines Vertrages in einer Begleitdolmetschsituation, können schon mal länger dauern. Hier freut sich das Hirn über jede noch so kurze Pause.
Aber auch im einsprachigen Alltag sind die entsprechenden Areale der grauen Masse von Sprachmittlern aktiver als bei einsprachigen Menschen. Mir fällt es immer auf, wenn ich an ein zurückliegendes Gespräch denke und überlegen muss, in welcher Sprache es geführt wurde. Manchmal erinnere ich mich über die tatsachliche Sprache hinaus an Satzkonstruktionen oder Wortwahl zum betreffenden Thema, die allerdings zum anderen Idiom gehören. Wie kann das sein?
Wenn sich Mehrsprachige äußern, feuern offenbar nicht nur die Neuronen, die zur aktuellen Inhaltsproduktion gehören. Dieses "Feuern" begleitet ein Suchen nach Entsprechungen in der/den anderen Sprache(n). Das erscheint mir ziemlich logisch. Ich weiß nicht, ob Ihnen das schon aufgefallen ist: Wenn wir Menschen ein Wort suchen oder sein Synonym, weil wir es eleganter ausdrücken möchten, schwingen mögliche Ersatzbegriffe beim Sprechen immer leise mit.
Da ich mein Dolmetscherhirn manchmal Sekundenbruchteile lang beobachte, es ist wie mit dem Kürzestschlaf, von dem ich eingangs sprach, habe ich das schon oft erlebt. (Im Normalfall reflektiere ich beim Dolmetschen tunlichst nicht, was ich da gerade mache, es würde den gesamten Prozess torpedieren.) Und so flackern hier nicht nur Synonyme auf, sondern ich spüre geradezu physisch die anderssprachigen Vokabeln mitschwingen.
So sieht das Gehirn nicht aus |
Diese Sprachen sind im Normalfall voneinander getrennt, die Trennung fühlt sich an wie eine Mauer.
Im Dolmetschprozess habe ich gelernt und in jahrelanger Praxis geübt, dieses Trennelement durchlässiger zu machen. Ich sehe/spüre die Idiome und ihre grammatikalischen Strukturen und Einzigartigkeiten parallel und lasse zu, dass sie gleichzeitig vorhanden sind. Den parallel mitlaufenden Strom in der anderen Sprache greife ich nun auf, hole ihn ins Bewusstsein, kontrolliere ihn vor und beim Sprechen und gleiche ihn mit dem anderen Sprachstrom ab.
Denn wir Dolmetscher hören nicht nur dem zu, was verdolmetscht werden soll, wir hören uns auch selbst zu. Die Qualitätskontrolle des Outputs bringt uns, sofern möglich und nötig, zum Reagieren, Ergänzen oder Korrigieren. (A propos Korrektur: Neulich sagte ein Redner im mündlichen Vortrag aus Versehen das Gegenteil dessen, was im Konzept stand und was auch logisch war. Ich habe zunächst den Fehler mitübersetzt, ihn dann korrigiert und den Satz "... muss es wohl heißen" nachgeschoben. Das erwies sich später als richtig und wichtig. In der anschließenden Diskussion fußten die ersten drei Fragen auf diesem Versprecher.)
Zum ersten Mal habe ich den hier doppelten Sprachstrom mit 14 Lenzen gespürt. Ich saß am Esstisch im Haus meiner Eltern, sah aus dem Fenster und dachte:
Il pleut. Zu dieser zweisilbigen Beschreibung kam unvermittelt noch ein "-net" hinzu, "Il pleut-net" also. Was war geschehen? Das da:
Il pleut. (‿ ‿)
Es regnet. (‿ ‿ ‿)
Davon ist damals mein Oberstübchen natürlich noch nicht heißgelaufen. Aber ich hatte eine leise Vorahnung von dem, was kommen sollte.
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Fotos: C.E. (Archiv)
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