Samstag, 23. Februar 2013

Vintage

Liebe Leserin, lieber Leser, herzlich willkommen auf den Seiten meines digitalen Arbeitstagebuchs. Hier schreibe ich stets unter Wahrung der Berufsgeheimnisse über Episoden meines Alltags als Dolmetscherin und Übersetzerin. Neben meinen Arbeitssprachen Französisch und Englisch beobachte ich natürlich meine Muttersprache.

Was gestern "Retro" war ist heute "Vintage" und damit wieder aktuell, das gilt für Kleidung ebenso wie für Möbel. Beispiele gefällig? Das Jersey-Wickelkleid mit flower power-Druck, die Großraumbrille der 80-er Jahre — ein großes Sichtfeld für ein (gefühlt) nahezu ereignisloses Jahrzehnt, bei dem kaum einer Durchblick hat­te —, die skan­di­na­vischen Teakmöbel der 1950-er/60-er Jahre, die jetzt in Kreuzberg und Neukölln hip ... und eben nicht mehr "Trödel" oder "Plunder" sind.

Auch ich mag manche alten Sachen. Ich höre gerade "Paul Temple und der Fall Lawrence" von Francis Durbridge, echtes Vintageradio, für mich zudem praktisch: Ich übe das Merken von Namen, die kommen hier gar zahlreich vor. Ach, und ich lerne Deutsch.

"Es ist nichts Ernstliches" heißt es da über einen Verletzten; "die kleine Strand­haubitze" ist ein Mann, der aus dem Hinterhalt rumballert, in den 1990-er Jahren wäre das wohl ein "Sniper" gewesen; oder aber jemand sagt: "Sachte, sachte, Bob!", wenn etwas zu "hurtig" geschieht.

Der Mann ist im Wege, wenn das "Frauchen" die Tasche packt, das ein "Genie in Kofferpacken ist", er ist nur mit Mühen von der Arbeit abzulenken, er "klappert" die ganze Zeit auf der Schreib­ma­schi­ne. Das Hörspiel bringt Botschaften wie "Fasse dich kurz, nimm' Rücksicht auf Wartende!", die heute nicht mehr alle verstehen.

Natürlich gibt es in diesem Durbridge weder Handys noch Anrufbeantworter; die geneigte Dienerschaft richtet den Betroffenen Informationen aus, die übers Telefon rein­kommen, wenn sie nicht gleich ein Telegramm erhalten.

Besonders fällt mir der altertümliche Umgang zwischen Männlein und Weiblein auf, der mich schon, als ich die Reihe als Teenager entdeckt habe, merkwürdig anwehte und zum Grinsen brachte, vor allem dann, wenn sich Madame immer wieder zwischendurch als heller als Monsieur erweist. Aber das Gefälle ist offen­sicht­lich. Nicht gefällt mir, dass Teile unserer Politik "Retro" wohl auch toll finden, Stichworte "Herdprämie", und dass aus dem Ehegattensplitting noch immer kein "Familiensplitting" wurde, wie es in Frankreich üblich ist.

Ebensowenig gefällt mir der "Retroaspekt" beim Verhalten einiger Richter, von dem ich in einem Hörfunkfeature erfuhr, das der BR brachte. Was da berichtet wird, ist weder "retro" oder "vintage", sondern einfach nur kalt, rückwärtsgewandt und ... schlicht eine Katastrophe: "Der Richter und die Opfer — das mühsame Ringen um die Ghettorenten", Feature von Julia Smilga.

Graue Tage.

Der Januar soll in Berlin der lichtärmste Monat seit 1951 gewesen sein, ich er­in­ne­re mich an zwei halbe Sonnentage. Der Februar war kaum besser. Was gibt es da schöneres als warmen Tee, Assistentenfutter, gute Bücher und das gute, alte Dampfradio.

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Foto: C.E. (Archiv)

1 Kommentar:

André hat gesagt…

Zu Richtern und Politik sag ich mal nur Mollath und Familienangestellte.