Willkommen et bienvenue beim Arbeitstagebuch einer Französischdolmetscherin und -übersetzerin. Meine Arbeitssprachen sind Deutsch, Französisch und Englisch (passiv). Dieser Tage arbeite ich in den Kulissen des größten deutschen Filmfestivals. Hier lesen Sie meine ureigensten, persönlichen Eindrücke. Sie stellen keine offizielle Meinung des Festivals dar.
Gestern am frühen Abend in meiner Küche: "Lancemon" [lɑ̃smɔ̃] sagt die öffentlich-rechtliche Nachrichtensprecherin, als würde ein zusammengesetztes Wort aus la lance (die Lanze) und mon (mein) existieren.
Beim zweiten Mal ist der Vorname mit dabei, erst jetzt verstehe ich: Die Radiofrau meint Claude Lanzmann.
Mir fällt vor Schreck der Kochlöffel aus der Hand. Da die Familie des Dokumentarfilmregisseur aus Osteuropa stammt, muss sein Name nicht nasaliert werden.
Ja, gibt es denn bei ARD und ZDF keine Aussprachedatenbank mehr? Diese legt normalerweise fest, wie fremde Wörter eingedeutscht werden.
Oder wie Namen "originalgetreu" ausgesprochen werden ... Für die Datenbank werden Quellen hinzugezogen wie "Selbstauskünfte durch direkten Kontakt mit Politikern, Künstlern und anderen Personen, Ansprechpartner bei Botschaften, (...) wissenschaftlichen Einrichtungen und anderen Rundfunkanstalten, (... den) ARDKorrespondenten und nicht zuletzt Nachschlagewerke wie Lexika und Enzyklopädien" (1). In meinem früheren Leben habe ich als Mitarbeiterin von SFB und ORB (heute rbb) zur Datenbank beigetragen. Beispiel, sogar ohne Phonetikschriftkenntnisse gut verständlich: "Kuh-wenn", so sprach sich der Name des Direktors aus, den Veolia (damals Vivendi bzw. Compagnie Générale des Eaux) im Zuge der Privatisierung beim Filmstudio Babelsberg eingesetzt hatte, er schrieb sich Couveinhes.
Claude Lanzmann erhielt gestern am späteren Abend den Goldenen Bären, die Medien sind derzeit voll davon, die Berlinale zeigt etliche seiner Filme. Ich freue mich sehr für ihn.
Ein wenig Bauchgrummeln macht mir der Kontext seines Berlinbesuchs. Der Potsdamer Platz liegt im Februar nicht in der deutschen Hauptstadt, denn dann gehört er der internationalen Welt der Filmschaffenden. Die ja alle Sprachen spricht ... oder sprechen sollte. At the Potsdam Place ist simplified english zur common language geworden. Alle Filme außerhalb des Wettbewerbs sind englisch untertitelt, auch Filme, deren Untertitelung extra für Berlin hergestellt wurde. Die Moderationen und Filmgespräche finden inzwischen ausnahmslos auf Englisch statt. Klare Folge: Die PR-Agenten, die die Filme in der Pressearbeit betreuen, geben sich immer seltener die Mühe, Interviewzeiten nach Sprachen zu differenzieren und unterschiedliche Dolmetscher zu buchen.
Manche Journalisten bleiben weg. Mir fehlten dieses Jahr etliche Gesichter von Korrespondenten aus Osteuropa, die zu Ostblockzeiten in der DDR studiert haben. Sie kamen sonst nach Berlin, gerade weil sie Deutsch und nicht Englisch sprechen. Auch mancher deutscher Oldie (ab Mitte 40), der zu Zeit des Mauerfalls schon nicht mehr in der Schule war, hat seine Englischkenntnisse seither nicht groß verbessert. Etliche aus dem Osten Deutschlands oder aus dem auch recht isolierten Westberlin erlebten das, was Auswanderer erfahren: Sie mussten sich in einem neuen System zurechtfinden, sie oder ihre Kinder durchlebten Studium und Arbeitswelt in einem ihnen (und ihren Eltern) fremden Kontext, Ehen zerbrachen, klare Bezüge waren unvermittelt weg. Sprich: Oftmals fehlte ihnen die Energie, sich parallel dazu um gute Fremdsprachenkenntnisse zu kümmern. Aber diese Generation hat über die letzten Jahre viel Filmwissen akkumuliert.
Dem steht heute der junge, hungrige Journalistennachwuchs gegenüber, der vielleicht Dank Erasmus im Ausland war, dem aber viel Seherfahrung fehlt.
Wie sich das auswirkt? Beispiel eines Interviews mit deutschen Medienvertretern in der französischen Botschaft, letzten Dienstagabend. Sprachlich eine Dreieckssituation: Ein junger Journalist stellt seine auf Englisch vorbereiteten Fragen dementsprechend auf Englisch, Lanzmann antwortet auf Französisch, ich darf dolmetschen (bzw. muss, das Leidenspotential ist groß).
Der Einfachheit halber gebe ich das Interview hier in Gänze auf Deutsch wieder.
Frage: Herr Lanzmann, freuen Sie sich, dass Sie diesen Preis gewonnen haben?
Lanzmann: Ich habe keinen "Preis gewonnen", ich erhalte den Goldenen Bären der Berlinale für mein Lebenswerk.
Frage: Wie ist es für Sie, dass Sie nach so vielen Jahren endlich in Deutschland anerkannt werden?
Lanzmann: Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, ich war in Deutschland immer anerkannt.
Dann ist Monsieur Lanzmann wortlos gegangen.
Zwei Tage später hat er sein Werkstattgespräch mit dem studierten Romanisten Ulrich Gregor — er hat das Internationale Forum des Jungen Films mitgegründet — im Filmhaus at the Potsdam Place direkt auf Englisch führen dürfen.
Der Schreck über die im Radio gehörte Namensverstümmelung ist rasch vergangen. Der Rest wird mich noch länger beschäftigen als nur gestern am frühen Abend in der Küche, an einem von zwei Abenden, an denen ich während der Berlinale genussvoll selbst gekocht habe, statt ins Kino zu rennen. Mir macht es Bauchschmerzen, dass eine kulturelle Institution mit einer solchen Außenwirkung das ureigenste Moment der Kultur aufgibt, die eigene Sprache. In Frankreich wäre das undenkbar.
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Fotos: Gerd Blanke
(1) "Die ARD-Aussprachedatenbank — Sprechen und
Verstehen von Fremdwörtern in Radio- und Fernseh-
programmen", Clara Finke, Hausarbeit (Rhetorik), 2010
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