Freitag, 15. Februar 2013

Berlinalegeflüster: [lɑ̃smɔ̃]

Willkommen et bienvenue beim Arbeitstagebuch einer Französischdolmetscherin und -übersetzerin. Meine Arbeitssprachen sind Deutsch, Französisch und Englisch (passiv). Dieser Tage arbeite ich in den Kulissen des größten deutschen Film­festivals. Hier lesen Sie meine ureigensten, persönlichen Eindrücke. Sie stellen keine offizielle Meinung des Festivals dar.

Gestern am frühen Abend in meiner Küche: "Lancemon" [lɑ̃smɔ̃] sagt die öffentlich-rechtliche Nach­richten­sprecherin, als würde ein zusammengesetztes Wort aus la lance (die Lanze) und mon (mein) existieren.
Beim zweiten Mal ist der Vorname mit dabei, erst jetzt verstehe ich: Die Radiofrau meint Claude Lanz­mann.

Mir fällt vor Schreck der Kochlöffel aus der Hand. Da die Familie des Dokumentar­film­regisseur aus Osteuropa stammt, muss sein Name nicht nasa­liert werden.

Ja, gibt es denn bei ARD und ZDF keine Aus­sprache­daten­bank mehr? Diese legt nor­maler­weise fest, wie fremde Wörter eingedeutscht werden.

Oder wie Namen "originalgetreu" aus­ge­sprochen werden ... Für die Datenbank werden Quellen hinzugezogen wie "Selbstauskünfte durch direk­ten Kontakt mit Politikern, Künstlern und anderen Per­so­nen, Ansprech­partner bei Botschaften, (...) wis­sen­schaft­lichen Ein­rich­tungen und anderen Rund­funk­anstalten, (... den) ARD­Korres­­pon­denten und nicht zuletzt Nachschlagewerke wie Lexika und Enzyklo­pä­dien" (1). In meinem früheren Leben habe ich als Mitar­bei­ter­in von SFB und ORB (heute rbb) zur Datenbank beigetragen. Beispiel, sogar ohne Pho­netik­schrift­kennt­­nis­­se gut verständlich: "Kuh-wenn", so sprach sich der Name des Direktors aus, den Veolia (damals Vivendi bzw. Compagnie Générale des Eaux) im Zuge der Privatisierung beim Film­studio Babelsberg eingesetzt hatte, er schrieb sich Couveinhes.

Claude Lanzmann erhielt gestern am späteren Abend den Goldenen Bären, die Medien sind derzeit voll davon, die Berlinale zeigt etliche seiner Filme. Ich freue mich sehr für ihn.

Ein wenig Bauchgrummeln macht mir der Kontext seines Berlinbesuchs. Der Pots­damer Platz liegt im Februar nicht in der deutschen Hauptstadt, denn dann gehört er der internationalen Welt der Filmschaffenden. Die ja alle Sprachen spricht ... oder sprechen sollte. At the Potsdam Place ist simplified english zur common language geworden. Alle Filme außerhalb des Wettbewerbs sind englisch unter­titelt, auch Filme, deren Untertitelung extra für Berlin hergestellt wurde. Die Moderationen und Filmgespräche finden inzwischen ausnahmslos auf Englisch statt. Klare Folge: Die PR-Agenten, die die Filme in der Pressearbeit betreuen, geben sich immer seltener die Mühe, Interviewzeiten nach Sprachen zu differenzieren und unter­schied­liche Dolmetscher zu buchen.

Manche Journalisten bleiben weg. Mir fehlten dieses Jahr etliche Gesichter von Korrespondenten aus Osteuropa, die zu Ostblockzeiten in der DDR studiert haben. Sie kamen sonst nach Berlin, gerade weil sie Deutsch und nicht Englisch sprechen. Auch mancher deutscher Oldie (ab Mitte 40), der zu Zeit des Mauerfalls schon nicht mehr in der Schule war, hat seine Englischkenntnisse seither nicht groß verbessert. Etliche aus dem Osten Deutschlands oder aus dem auch recht isolierten Westberlin erlebten das, was Auswanderer erfahren: Sie mussten sich in einem neuen System zurechtfinden, sie oder ihre Kinder durchlebten Studium und Ar­beits­welt in einem ihnen (und ihren Eltern) fremden Kontext, Ehen zerbrachen, klare Bezüge waren unvermittelt weg. Sprich: Oftmals fehlte ihnen die Energie, sich parallel dazu um gute Fremdsprachenkenntnisse zu kümmern. Aber diese Gene­ration hat über die letzten Jahre viel Filmwissen akkumuliert.

Dem steht heute der junge, hungrige Jour­nalisten­nachwuchs gegenüber, der viel­leicht Dank Erasmus im Ausland war, dem aber viel Seherfahrung fehlt.
Wie sich das auswirkt? Beispiel eines In­ter­views mit deutschen Medienvertretern in der französischen Botschaft, letzten Dienstagabend. Sprachlich eine Dreiecks­situation: Ein junger Journalist stellt seine auf Englisch vorbereiteten Fragen dem­ent­sprechend auf Englisch, Lanzmann antwor­tet auf Französisch, ich darf dol­metschen (bzw. muss, das Leidens­potential ist groß).

Der Einfach­heit halber gebe ich das Inter­view hier in Gänze auf Deutsch wieder.

Frage: Herr Lanzmann, freuen Sie sich, dass Sie diesen Preis gewonnen haben?
Lanzmann: Ich habe keinen "Preis gewonnen", ich erhalte den Goldenen Bären der Berlinale für mein Lebenswerk.
Frage: Wie ist es für Sie, dass Sie nach so vielen Jahren endlich in Deutschland anerkannt werden?
Lanzmann: Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, ich war in Deutschland immer anerkannt.

Dann ist Monsieur Lanzmann wortlos gegangen.

Zwei Tage später hat er sein Werkstattgespräch mit dem studierten Romanisten Ulrich Gregor — er hat das Internationale Forum des Jungen Films mitgegründet — im Filmhaus at the Potsdam Place direkt auf Englisch führen dürfen.

Der Schreck über die im Radio gehörte Namensverstümmelung ist rasch ver­gangen. Der Rest wird mich noch länger beschäftigen als nur gestern am frühen Abend in der Küche, an einem von zwei Abenden, an denen ich während der Berlinale ge­nuss­voll selbst gekocht habe, statt ins Kino zu rennen. Mir macht es Bauch­schmer­zen, dass eine kulturelle Institution mit einer solchen Außenwirkung das ureigenste Moment der Kultur aufgibt, die eigene Sprache. In Frankreich wäre das undenkbar.

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Fotos: Gerd Blanke
(1) "Die ARD-Aussprachedatenbank — Sprechen und
Verstehen von Fremdwörtern in Radio- und Fernseh-
programmen", Clara Finke, Hausarbeit (Rhetorik), 2010

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