Bonjour auf den Seiten meines digitalen Arbeitsjournals, das in einer wenige Quadratmeter kleinen Box entsteht. Immer häufiger arbeite ich auch außerhalb der Kabine. Heute folgt ein Kurzkrimi ohne Leiche.
Nach getaner Arbeit sitzen wir reichlich ermattet im Restaurant — ein Kunde und ich. Jetzt muss ich ihm auch noch die Speisekarte übersetzen. Normalerweise stört mich das nicht, da dolmetsche ich spontan für Freunde oder Familie; diese Art Vertrautheit führt dazu, dass ich nicht merke, wie mein Kopf rödelt.
Persönliche Nähe kenne ich auch im Dolmetschprozess, aber sie ist nur Ergebnis von Projektionen. Als Dolmetscherin identifiziere ich mich oft mit jenen, die ich vertonen darf. Das ist nicht in allen Fällen möglich. Die Anzahl der Vortragenden auf einer Konferenz spricht zumeist dagegen. Aber wenn ich mich über Tage auf nur einen Redner einlese, in seine Gedankenwelt hineinschraube, um die betreffende Person am Ende gut synchronisieren zu können, ist der Vorgang hoffentlich nachvollziehbar, Sympathie vorausgesetzt.
Dieses Phänomen ändert sich gerade: Die Vielfalt der Kunden und die Dauer der Einsätze an der Seite ein- und desselben Menschen nimmt zu, die Situation wird banaler.
Krisenbedingt haben einige Konferenzveranstalter auf Französisch verzichtet, meine Arbeitssprache, und da es offenbar nicht so viele Beschwerden darüber gegeben hat, wie unsereiner gehofft hatte, wird jetzt erst einmal häufiger auf simplified english konferiert. (Ich halte das für ein Übergangsphänomen, denn gute Kenntnisse der Sprache Shakespeares sind in Frankreich und Deutschland gleichermaßen selten, wie ja gerade erst wieder diverse Gazetten vermeldeten.)
Was im Konferenzbereich weniger wird, kompensieren Aufträge aus Politik, Industrie und Handel. Der Berufsalltag wird bunter, denn gearbeitet wird immer, auch in der Wirtschaft und für die Wirtschaft. Mitunter geht es so bunt her, dass ich das Gefühl habe, die Rubrik "Vermischtes" auf der letzten Zeitungsseite live zu erleben. Dabei sehe ich mir über die Schultern und stelle fest, wie meine eingangs festgestellte Neigung zur Identifikation deutlich abnimmt.
Wie neulich erst. Wir Sprachmittler bekommen als erste mit, wenn
neue Geschäftsfelder entstehen, Betrug beispielsweise, der übers Internet
angebahnt wird (siehe mein gestriger Eintrag). Und so durfte ich mich vor einiger Zeit dieser Sache annehmen: Ein
knitzer (*) mittelständischer Bauunternehmer aus Deutschland hat im Pariser Großraum ein besonderes Baustellenfahrzeug zu einem äußerst günstigen Preis gebraucht erworben. Käufer und Verkäufer waren sich in einfachstem Englisch über dessen Zustand, Ausstattung, Lieferbedingungen und Liefertermin einig geworden.
Der Käufer überwies vorab das Geld — der Verkäufer hatte Vorkasse verlangt. Außerdem war das Jahresende nah und die Investition sollte noch fürs alte Kalenderjahr wirksam werden. Und dann war nichts geschehen, weder wurde das Fahrzeug geliefert, noch war es
möglich, das Geld zurückzuerhalten.
So reiste also der deutsche
Unternehmer nach Paris, um nach seinem Fahrzeug Ausschau zu halten, die Berichterstatterin im Schlepptau. An der angegebenen Firmenadresse, die wir einer eindrucksvoll
gestalteten Internetseite entnommen hatten, entdeckten wir zu unserer
großen Überraschung ein unrenoviertes Haus zwischen zwei Autobahnzubringern. Die Haustür stand
offen, schien nicht mehr abschließbar zu sein, das Gebäude war noch zum
Teil bewohnt, davon zeugten eine halbwegs aktuelle Zeitung, weggeworfene Weinflaschen, Kippen und weiterer Unrat. Im Erdgeschoss hing zwischen abplatzenden Putzstücken und Rußspuren ein nigelnagelneuer Metallbriefkasten an einer mit einer Metallplatte verstärkten Tür, darauf der Name und die Firma des
vermeintlichen Händlers. Das war auch gleich schon der schaurigste Moment des ganzen Unterfangens.
Anschließend bleib meinem Kunden nur der Gang zur
Polizei. Der Deutsche war sehr aufgebracht und sprach im
Warteraum der Polizei sehr abträglich über Land und Leute. Zum Glück machten die
Uniformierten wenig später großen Eindruck auf ihn; das Gespräch wurde sachlicher, so blieben mir etliche unschöne Wörter zu übersetzen erspart.
Später erfuhren wir, dass sich hinter der Metalltür im Abrisshaus die Reste eines kleinen Materiallagers befunden haben. Die Kürze des Einsatzes und die
Eindeutigkeit der Geschehnisse entlockte mir ein Stirnrunzeln und einen Anflug von Erschöpfung ob der vielen Details fürs Protokoll. Dabei liebe ich eigentlich meinen Beruf und die Vielseitigkeit der Situationen, die unserseiner außerhalb der Kabine erleben kann.
Als wir schließlich im Restaurant saßen, war meine Haltung zu diesem Kunden ähnlich zwiespältig: Wirklich zu fassen bekomme ich ihn nicht, er scheint weder Fisch noch Fleisch zu sein. Der Mann ist nicht ohne Witz und gute Ideen, wenn es um die eigene Firma geht, aber offenbar hoffnungslos naiv, wenn er im Ausland ein technisches Großgerät zum Schnäppchenpreis ohne jede Absicherung erwerben will.
Vokabelnotiz
knitz — Süddeutsch für raffiniert, gewitzt
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Fotos: C.E.
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