Derartige Beauftragungsfristen kennen Dolmetscher, die bei großen Behörden festangestellt sind. Freiberufler wie ich erleben das eher selten. Normalerweise liegen bei mir die Buchungen vier bis zwölf Wochen im Voraus vor. Ich sage hier gerne zu, das Thema kenne ich gut, habe bereits Dokumente im Umfang von Diplomarbeiten dazu redigiert bzw. umgetextet. Ich muss mich nur auf den neuesten Stand bringen, um als Dolmetscherin das Tischgespräch zwischen politisch Tätigen aus mehreren Ländern begleiten zu können.
Das Politikfeld, um das es geht, ist in besonders starkem Wandel begriffen. Es streift die Bereiche Wirtschaft, Jura (Wettbewerbs-/Urheberrecht), Kultur, Technik, Medien. Seit Jahren schälen sich hier Fachtermini vor unseren Augen (überwiegend aus dem Englischen) heraus, verfestigen sich erst mit der Zeit. Die entsprechende Vokabelsammlung, laut eigens angefertigter Legende (dazu morgen mehr) seit fünf Jahren in Verwendung, führt weit über 300 Stichworte auf.
Rasch überfliege ich die Lexik. Nicht immer konnte ich bereits die Begriffe zu Wortpaaren ergänzen. Beim Lesen trage ich manche Übersetzung nach, die letztes Jahr noch nicht eindeutig schien. Ich markiere Veränderungen durch unterschiedliche Schriftgrößen bzw. setze auch mal was fett.
Dann macht es heftig "plopp" im Mailbriefkasten, eine große Sendung. Ebenso große Erleichterung, denn die Namen auf der Gästeliste kenne ich zu 80 %, den Horizont der Fragen kann ich damit großteils erahnen. (Es sind etliche langjährige Kunden darunter.)
Die Ansprechpartnerin der Behörde hat Zusammenfassungen einer Studie mitgeschickt, um die es geht, sie liegen auf jeweils drei Seiten pro Sprache vor. Überschaubar. Die Publikation selbst umfasst mehr als 700 Seiten. Es ist der Arbeitsbericht einer Kommission mit Analysen und Quellen, entstanden in einem knappen Jahr. Ich bin froh, das Original studieren zu können, kann mir aber auch ausrechnen, wie wenig Stunden ich am Stück dafür haben werde, exakt drei, denn der Vorabend ist seit Wochen verplant (und ich will nicht schon wieder Konzertkarten verschenken).
Organisation ist also wieder mal alles. Wie gehe ich vor? Zunächst erfreue ich meine grauen Zellen mit dem Wühlen in der bewährten Vokabelliste. Die schöne Redensart "Wiedersehen macht Freude" gilt auch für Wörter. Dann überfliege ich, was ich im Umfeld in den letzten 12 Monaten zu dem Bereich selbst übersetzt oder umgetextet habe. Der nächste Schritt: Ich lese zwei, drei Zeitungsartikel zum Thema. Die Zeitungen sind mir wohlvertraut, auch hier klingelt Pawlow mit seinen Glöckchen, so lerne ich jeden Tag, meine Synapsen freuen sich über Routine und Hirnfutter.
Die Muskeln des körpereigenen Zentralcomputers sind jetzt aufgewärmt. Ich gehe die Zusammenfassungen an. Lese im Wechsel beide Sprachfassungen, vergleiche mit meiner Liste, ergänze, ändere ... und versuche, die Lektorin in mir in bezug auf die Übersetzung stumm zu bekommen. ("Nein, liebe innere Stimme, hier geht's nur um die Infos, die Sache ist längst veröffentlicht!")
Dann muss ich wirklich "richtig" lesen. Und zwar ohne ständig an eine Übersetzung zu denken. Ich lese auf Inhalt und mache mir nur noch ab und zu Vokabelnotizen, vor allem zu Abkürzungen, weil ich weiß, dass meine Vorarbeit gut war, die Liste ausführlich ist. Sie gibt ein Wortfeld wieder (champ linguistique), viele Fachtermini, aber auch allgemeine Begriffe, die mit der Problematik in Zusammenhang stehen.
Nach dem Konzert habe ich meine Notizen nochmal überflogen und zum Glück einigermaßen gut geschlafen. Am Morgen konnte ich in aller Herrgottsfrühe die letzten Vokabelnotizen, das Handschriftliche vom Vortag, in die große Liste einarbeiten, sie alphabetisch sortieren, ausdrucken und eventuelle "Wackelkandidaten" von Hand farbig hervorheben.
Nach solch' einer Aktion vergesse ich dann immer den ganzen Kram und gehe
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Illustrationen: Webfunde
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