Montag, 30. September 2013

Patente Lösung

Hallo! Sie le­sen in ei­nem Ar­beits­ta­ge­buch. Ich bin Fran­zö­sisch­dol­met­scher­in mit den Schwer­punk­ten Po­li­tik, Wirt­schaft, Ge­sell­schaft und Kul­tur. "Wir Dol­met­scher über­tra­gen aus dem Rückenmark", sagte Dolmetscherkollege Vincent neulich, will sagen: Wir haben einen direkteren Zugang zum Hinterkopf als andere — und der arbeitet irgendwie ständig. 

Manchmal träume ich Lösungen zu Problemen, die sich mir gar nicht stellen. Sonn­tag­morgen, im Halbschlaf. Am Samstag hatte ich Untertitel für einen Film er­stellt, der auf den Französischen Filmtagen Tübingen läuft. Im Traum war ich in die Zu­kunft gereist, und zwar auf den Talent Campus der Berlinale. Hier treffen sich pa­ral­lel zum Festival junge Filmmenschen mit Ex­per­ten.

Arbeitssprache war Englisch, glaube ich zumindest. Es war süß zu beobachten, wie etliche der jungen Leute mitten im Dritt- oder Viertspracherwerb steckten, of­fen­sicht­lich alles verstanden, aber nicht gleich antworten konnten. Sie taten es un­ge­zwungen in ihrer Muttersprache. Ins Bild eingeblendet wurden "Si­mul­tan­un­ter­ti­tel".

Simultanuntertitel gibt es noch nicht standardmäßig. Erste Liveuntertitelungen werden aber heute schon gesendet, z.B. im TV-Sport, das sind Programme für Hör­ge­schä­dig­te. Sie entstehen als Mischung von elektronischer Spracherkennung und Korrektur durch Menschen. Das ließe sich schon heute mit fremdsprachigen Si­tu­a­tio­nen ver­bin­den, also Ver­dol­met­schun­gen mit Spracherkennung und "Dik­tier­soft­ware" umsetzen. Eines ist aber klar: Mensch­li­che Spra­che ist zu komplex und zu unperfekt für eine vollständige Au­to­ma­ti­sie­rung, das wird auch in Zukunft gelten.

Sonntagmorgen war mein Traum-Ich allerdings verwundert. Ich schaute doch gar nicht fern! Ich saß mitten im Geschehen ... Ich verdächtigte die Lehne des Sitzes vor mir, die Laseruntertitel zu senden. Durch ein an einer Stelle etwas fettiges Brillenglas sah ich aber die Lichtstrahlen der Titel.

Zwei Gedanken. Erstens: Was ist mit jenen, die in der ersten Reihe sitzen? Zweitens: Was ist, wenn ich zur Seite sehe? Ich sah zur Seite und nach unten. Die Untertitel saßen immer akkurat am "unteren Bildrand" und wurden holografisch in den Raum projiziert. Ich fasste mir an den Kragen. Da saß genau über der Kuhle zwischen den Schlüsselbeinen ein winziges Kästchen, mit Clips festgemacht.

Die Autorin dieser Zeilen 2013 und vielleicht in 30 Jahren
(aber bitte die Haare etwas weniger grün)
Aber woher weiß das Gerät, dass ich gerade den Kopf gedreht habe? Ich fasse mir an den Hinterkopf. Unten auf der Höhe des Bogens des Os occipitale sitzt ein winziger Haarclip.
(Mein Nebensitzer, der seinen Schädel glattrasiert trägt, trägt das Teil mit einem kleinen Pflaster befestigt.)

Entspannt lehne ich mich zurück. Die Titel lehnen sich mit zurück. Das bedeutet, dass auch beim Festival alle Filme im Original laufen können und jeder Zuschauer seine eigene Untertitelung in der Sprache seiner Wahl erhält. In den Dol­met­scher­ka­bi­nen sitzen wir Dolmetscher zudem mit mehrsprachiger Filmdeskription für Menschen, die nichts oder sehr schlecht sehen können.

Vielleicht werden die Berlinale-Diskussionen ja sogar wieder auf Deutsch ge­führt. Auf jeden Fall ist das Filmfestival der Zukunft mehrsprachig und barrierefrei. Hm, wird es erst in 30 Jahren so aussehen? (Vorausgesetzt, die Menschheit kümmert sich endlich ums Klima und kriegt noch die Kurve!)

Wer diese Anregung zur Entwicklung eines Patents nutzen möchte: feel free.
(Ich würde mich allerdings sehr freuen, wenn bei Übernahme der Clip-Idee mein Name in dem Zusammenhang genannt werden würde.)


Hier noch der Link zur Diplomarbeit von Andrea Kraus zum Thema Live­un­ter­ti­te­lung, Uni Saarland, 2010
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Illustration: Me and myself im Jahre 2043,
Bild erstellt mithilfe eines Computerprogramms
des Face Research Lab der Universität Glasgow

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