It's summer time! In diesen Wochen berichte ich aus dem Alltag als Dolmetscherin zwischen Berlin, Paris, Marseille und Kiel. Und da urlaubsbedingt kaum jemand mitliest, kann ich hier schon mal Dinge gestehen, die eigentlich nicht hätten passieren dürfen ...
Neulich, in Paris, eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn als Dolmetscherin. Ich sitze gerade schön verträumt und restaufwachend in der Métro und lasse nicht nur die nackten, dunklen Steinmauern der Pariser Untergrundbahn an mir vorüberziehen, sondern auch den Vorabend. Ich bin für zwei Arbeitstage hergekommen, der Auftraggeber stammt aus der ewig klammen
Leider-leider-Fraktion, also wohne ich nicht im Hotel, sondern privat, bei Catherine und Inès. Wir sehen uns nur etwa alle fünf Monate, müssen also jedes Mal viel nachholen. Catherine, die etwas älter ist als ich, versorgt mich in der Früh wie eine zweite Mutter mit Müsli, Orangensaft, Pausenbrot und Apfel. Als guter Gast und Freundin nehme ich diese wohlwollende Aufmerksamkeit gerne an. Am Ende gehe ich nicht wie sonst mit großem Zeitpuffer aus dem Haus, sondern mit kleinem, werde demnach eher zwanzig Minuten vorher am Ort des Geschehens eintreffen als die sonst üblichen 30, 40 Minuten.
Plötzlich stoppt der Zug mitten im Tunnel. Wir sind Gefangene - und ich bin exakt zweikommafünf Stationen von meinem Ziel entfernt! Es ist stickig im Wagon,
rush hour. Ich überlege kurz, ob ich jetzt klaustrophobisch reagieren soll oder nicht, da fährt nach gefühlten zwei Minuten der Zug wieder an, aber nur, damit in der nächsten Station das Ende der Reise verkündet werden kann: drei Stationen vor uns sei ein herrenloses Päckchen gefunden worden.
Zum Glück kenn' ich die Ecke. Ich rase aus dem Zug, flitze zur Bushaltestelle, sehe noch die Schlusslichter eines Busses der Linie, mit der ich einst regelmäßig zur Uni gefahren bin. Der Fahrplan vermeldet, dass der nächste Bus in fünf Minuten eintreffen solle. Das klingt gut. Indes: nach fünf Minuten biegt nichts um die Ecke, auch nach sechs und sieben nicht. Meine Kundin ruft an, ihre Anweisung ist knapp: "Nimm dir ein Taxi!" Ich winke mir das nächste heran, das nach weiteren drei Minuten hält.
Zwölf Minuten für die kurze Strecke, das sollte klargehen. Als ich mich in die Fahrgastzelle setze - die heißt unter Fahrzeugbauern wirklich so - bin ich eingehüllt in eine Wolke asiatischer Düfte. Ich schaue nach vorne - da steht rechts auf dem Armaturenbrett ein kleiner geschnitzter, vergoldeter Schrein mit einer winzigen Statue drin, ein grinsender Buddha. Am Rückspiegel baumelt eine Blumengirlande, da schaue ich genauer Richtung Fahrer. Mich fährt ein Migrant aus Asien, der sich später als Vietnamese vorstellt. Der Name der Straße, in die ich will, sagt ihm nichts, aber er fährt drauflos, als ich ihm sage, dass ich weiß, wo sie ist. Wir biegen links ab, dann sage ich: "Jetzt rechts!", er überhört es. Die nächste darf er nicht rechts abbiegen, dann muss er wieder links, wir sind
rive gauche an einer Ecke mit besonders vielen Einbahnstraßen.
Fünf Minuten später fahren wir an der Bushaltestelle von eben vorbei, am Ausgangspunkt, dort, wo er mich aufgegabelt hat. Er fährt hundert Meter weiter, stoppt, blickt kurz auf die Uhr, hält sein Feuerzeug an ein Räucherstäbchen, nestelt es in einen Specksteinhalter vor dem Lächelbuddha, schaltet den Navi ein, sucht die Straße, hat offenbar Mühen mit der Rechtschreibung. Dann hupt es laut neben uns - ein Linienbus! Mein Bus! Der Taxifahrer war rechts rangefahren, indes an einer Stelle absoluten Halteverbots, weil jedes parkende Auto die Busspur, deren Streifen hier in Kreuzungsnähe durch kleine Mäuerchen vom Rest der Fahrbahn abgetrennt ist, den Bus behindert. Das Taxi ist eingekeilt. Der Fahrer manövriert uns aus der Enge und gibt die Busspur frei. Dann fährt er wieder rechts ran und sucht weiter. Ich buchstabiere. Wir haben noch drei Minuten.
Im Tiefflug folgt er dem Navi, überfährt, so schnell ist er, fast die Stelle, an der er rechts abbiegen muss, obwohl jetzt von vorne der Navi und mit ihm ich von hinten im Chor krähen: "Rechts abbiegen!" Monsieur biegt in letzter Sekunde ab, der Gegenverkehr hupt, denn er ist auf dessen Fahrbahn, Reifen quietschen, es greift sich wer an den Kopf. JETZT müsste ich eigentlich angekommen sein, ich hänge eingeklemmt zwischen Fahrer- und Beifahrersitz, habe Straßen, Buddha und Navi fest im Blick, nein, auf den letzten Metern keine Einfahrstraßenregelungen mehr, das scheint klar. Dreißig Sekunden später sind wir am Ziel - Monsieur grinst feist wie seine Schnitzfigur, sagt: "Acht Eulo! Wal einfach zu finden!"
Ich habe keine Lust auf Diskussionen. Dankbar verlasse ich die Fahrgastzelle und eile ins Haus, in dem wir drehen. Das Team hat dort schon ohne mich aufgebaut, sich mit ordentlichem Schulfranzösisch beholfen. "Sorry", sag ich, "bin einen kleinen Umweg gefahren, einmal Vietnam und retour ..."
Ich hatte vielfaches Glück, entspannte, fähige Kunden, habe keinen Blechschaden provoziert, auch wenn ich mich nach dem
Gesetz der langsamsten Kassenwarteschlange für das falsche Verkehrsmittel entschieden hatte. Nächstes Mal werde ich bei den Freundinnen so früh losgehen wie in Berlin oder ab Hotel üblich, auch wenn der Apfel für die Pause noch ungewaschen ist.
Und jetzt zünde ich erstmal ein Räucherstäbchen an.