Dienstag, 21. Januar 2025

Konzepte dolmetschen

Bon­jour auf mei­nen Web­log­sei­ten! Ich bin Kon­fe­renz­dol­met­sche­rin und ar­bei­te haupt­säch­lich mit Fran­zö­sisch und manch­mal auch mit Eng­lisch, wo­bei Deutsch mei­ne Mut­ter­spra­che ist.

Beim Dol­met­schen muss ich im­mer auch das sprach­li­che Hin­ter­land der Be­grif­fe und den kul­tu­rel­len Kon­text im Kopf ha­ben. Das macht Men­schen wie mich auch zu Kul­tur­ver­mitt­lern.

Neu­lich ha­be ich in Ber­lin bei ei­ner Kaf­fee­pau­se auf ei­ner Re­no­vie­rungs­bau­stelle laut über ei­ne Ver­bes­serung des Um­bau­plans nach fran­zö­si­schem Vor­bild nach­ge­dacht. Die Kun­din, ei­ne mit ei­nem Fran­zo­sen ver­hei­ra­te­te Deut­sche, hat gut hin­ge­hört und dann dem Architekten, der zwi­schen­durch im Ne­ben­zim­mer zum Te­le­fo­nie­ren war, neue Auf­ga­ben ge­ge­ben. Sowas freut mich sehr und bringt mich zum Nach­den­ken über ein Bau­the­ma!

Die etwas an­de­ren Pas­sa­gen

Es heißt, ein Volk spie­ge­le sich in sei­ner Ar­chi­tek­tur wi­der. Wenn das stimmt, dann sind wir Deut­sche ein Volk der Flur­men­schen – ge­ord­ne­te Über­gangs­be­rei­che, wo nichts ver­wei­len darf, au­ßer viel­leicht die ei­ge­ne Un­ge­duld. Als Dol­met­scher­in auf Bau­stel­len, ei­nes mei­ner Fachgebiete, wo Kul­tu­ren und Bau­ge­wohn­hei­ten auf­ein­an­der­pral­len, se­he ich die­ses The­ma oft.

Schon wie­der klin­gelt das Te­le­fon, Bau­pla­nung ei­ner Alt­bau­re­no­vie­rung in Schö­ne­berg. Kurz drauf ste­hen wir im Flur näm­li­cher Be­hau­sung. Wir, das sind ein deut­scher Ar­chi­tekt mit sei­ner Prä­zi­sion, der ame­ri­ka­ni­sche IT-Ma­na­ger mit der Be­geis­te­rung ei­nes Men­schen, für den open con­cept li­ving ei­ne Re­li­gi­on zu sein scheint, die fran­zö­si­sche Raum­aus­stat­te­rin, die un­längst in ei­ner an­ge­sag­ten Wohn­zeit­schrift ei­ne ei­ge­ne Bil­der­strecke hatte und eben ich als Dol­met­sche­rin. Der Flur ist et­was brei­ter und links wur­de ei­ne auf­ge­stän­der­te Wan­d be­reits ab­ge­tra­gen. Ma­dame hat ei­ne Vi­sion: Je vois à gauche et à droite des pla­cards, ca­chés der­rière des boi­se­ries, que nous pro­lon­ge­rons jus­qu'à la salle à manger, qu'en pen­sez-vous ? (Ich kann mir hier links und rechts gut Wand­schränke vor­stel­len, hin­ter Ver­tä­fe­lung ver­steckt, die wir bis zum Esszimmer ver­län­gern, was hal­ten Sie da­von?)

Der deut­sche Flur: Ein Raum oh­ne Iden­ti­tät

Ein nüchterner Flur
Nutzfläche
Be­gin­nen wir bei uns: Der Flur ist in Deutschland zumeist ein lan­ger, meist schma­ler Kor­ri­dor mit Tü­ren rechts und links, zweck­mä­ßig und nüch­tern, als würde er einen auffordern, sich dort bitte nicht über einige Se­kun­den aufzuhalten. Sol­che Flu­re wir­ken wie eine lieblos ge­plan­ter Durchgang einer U-Bahn-Sta­ti­on. Sie ver­bin­den, haben aber kei­nen eigenen Wert.

Ab­stel­len dür­fen wir da höchs­tens irgendwo Schu­he oder Ja­cken, aber wehe, je­mand wür­digt nicht, dass die Schuh­ab­la­gen sym­me­trisch zur Gar­de­ro­be ste­hen! Doch die Architektur lässt oft wenig Spielraum für Experimente.

Und als ich ge­nau das bei der Bau­plan­be­spre­chung an­spreche, legt der deut­sche Ar­chi­tekt seine Stirn kunstvoll in Falten: „Der Flur ge­hört zur deut­schen Wohn­kul­tur. Er gibt Struk­tur. Ori­en­tie­rung!“


USA: Vom Wind­fang oder Veranda di­rekt auf die Couch

An­ders da­ge­gen un­se­re Freun­de in den USA, wo es oft kei­nen Flur gibt. Wir tre­ten ein und ste­hen — zack! — mit­ten im Ge­sche­hen. Eben über die Schwelle getreten, se­he ich auf So­fa und Küche. Als ich das mal einer fran­zö­si­schen Freun­din er­zählt ha­be, mein­te die nur: Ils n’ont pas hon­te?

Und ja, es ist ge­wöh­nungs­be­dürf­tig, und na­tür­lich ha­ben die Amis auch Din­ge zu ver­stecken. Das ers­te Mal, als ich in ein ame­ri­ka­ni­sches Haus kam, nahm mir die Gast­ge­be­rin Man­tel und Ruck­sack ab, die fand ich spä­ter auf dem Bett­überwurf im Schlaf­zim­mer wie­der, und rief jo­vi­al: Make your­self at home! Das ame­ri­ka­ni­sche "Ver­steck­gut" se­he ich spä­ter im Haus­wirt­schafts­raum: Vor­räte für zwei Wo­chen Ein­ge­schneit­sein in­mit­ten von Ka­li­for­nien, und ein Schuh­schrank stand im Durch­gang zur Ga­ra­ge. (An­de­re Din­ge wan­der­ten in be­geh­ba­re Kam­mern, the clo­sets.)

Das Kon­zept des of­fe­nen, flur­lo­sen Woh­nens hat was. Es ver­mit­telt Wär­me. Du bist so­fort will­kom­men. Kei­ne Tren­nung, kei­ne Über­gän­ge, ein­fach rein ins Le­ben.

Frank­reich: Die Wand­schrank-Oase


Und dann Frank­reich, das Hei­mat­land der pla­cards – die­se un­sicht­ba­ren Wand­schrän­ke, die je­den Flur, vie­le Bä­der und Zim­mer zur per­fek­ten Büh­ne ma­chen: Kein Schuh, kei­ne Jacke, weder Ta­sche, Ti­egel oder Wasch­ma­schi­ne stören die Ästhe­tik. Hin­ter den Schrank­türen, die wand­hoch fest mon­tiert sind, sind alle Sie­ben­sa­chen ver­bor­gen. Wun­derbar! Un­sicht­ba­res Cha­os!

Bei ei­ner Be­sich­ti­gung in Paris, es ging ei­gent­lich um ener­gie­ef­fi­zien­te Ar­chi­tek­tur, zeig­te mir ein Bau­lei­ter stolz die 15 Tü­ren ei­ner Wohn­ein­heit. Ich dach­te zu­nächst, ich hät­te mich in einen Show­room für Schrank­tü­ren ver­irrt. Aber nein, Wohn­flur mit Türen im Stil rustikaler Holzvertäfelung, die Küche mit neu­tra­len Tü­ren mit Lo­tus­ef­fekt, Spie­gel­tü­ren an Klei­der­schrän­ken, Ta­fel­far­be auf den Kin­der­zim­mer­tü­ren. C’est beau, c'est pro­pre !, warb er stolz, schön und sau­ber!

Wie an­ders als in Deutsch­land, wo wir für je­den Ge­gen­stand ei­ne an­de­re Lö­sung ha­ben: Gar­de­ro­be, Schuh­re­gal, Schlüs­sel­brett, Schirm­stän­der, Hut­ab­la­ge. Der Flur wird zum Mu­se­um des All­tags. Prak­tisch mag das sein, es ist aber we­der ele­gant noch putz­prak­tisch.

Fa­zit: interkulturelle Flurästhetik


Die Dis­kus­sion auf der Bau­stel­le en­det mit ei­nem Kom­pro­miss: Ein Flur in ame­ri­ka­ni­scher Luf­tig­keit, der durch (we­ni­ge) fran­zö­si­sche Wand­schrän­ke auf­ge­peppt wird, und mit deut­scher Zim­mer­tür: Als der ame­ri­ka­ni­sche Pro­jekt­ma­na­ger vor­schlägt, die Wand zwi­schen Flur, Ess­zim­mer und Wohn­zim­mer raus­zu­rei­ßen, erntet er ent­setz­tes Schwei­gen. Naja, kommt oh­ne­hin nicht in­fra­ge ­... tra­gen­de Wand!

Als Dol­met­scher­in auf dem Feld der kul­tu­rel­len Schnit­tmengen kann ich sa­gen: In den meisten deut­schen Fluren ist noch viel Luft nach oben, was die Gestal­tung an­geht (wenn sie nicht man­gels trocke­ner Kel­ler­räume zu­guns­ten ver­steck­ten Stau­raums für seltener genutzte Habseligkeiten ab­ge­hängt wur­den). Wir dür­fen dank An­re­gun­gen aus an­de­ren Län­dern unseren Nicht­ort Flur neu er­fin­den. Ich füh­le mich wohl als Ver­mitt­le­rin auch bei fas­zi­nie­ren­den ar­chi­tek­to­ni­schen Miss­ver­ständ­nis­sen, beschenkt und bereichert.

Was sagt Ihr? Lie­ben wir den Flur? Has­sen wir ihn? Oder ste­hen wir ein­fach nur drin, oh­ne zu wis­sen, war­um?

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Illustration: pixlr.com

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