Willkommen auf den Seiten des digitalen Arbeitstagebuchs aus der Welt einer Dolmetscherin und Übersetzerin. Was ich im Beruf so erfahre und wie mein Leben auch meine Sichtweise verändert, davon berichte ich hier. Sonntagsbild!
Wir sind im Herzen der Stadt, am "Alex": Auf der rechten Seite außerhalb des Aussschnitts (hier ein Link, dann suchen nach Jung'sche Apotheke) stand bis in die Mitte der 1920-er Jahre die Apotheke "Zum schwarzen Adler", in der ab Herbst 1847 Theodor Fontane für arme Arbeiterkinder Große Mengen Lebertrans in Flaschen gefüllt hat, von dem sehr viel in Tranfunzeln gelandet sein muss. Frühe Energieprobleme! 1848 hat Fontane hier den Märzaufstand miterlebt und wie aus dem Fundus des benachbarten Königstädtischen Theaters die Requisitensäbel und andere Theaterdeko für den Aufstand gemaust worden sind. Das Theater wurde dann in der 2. Hälfte der 1920er abgerissen, ein früher Tribut an den entstehenden Massenverkehr, genauer: den U-Bahn-Bau.
Auch die Apotheke verschwand im Rahmen dieser Platzneugestaltung. Das moderne Gebäude rechts vom angeschnittenen Erdgeschoss ist das Berolinahaus des Architekten Peter Behrens, eines der Zwillingshäuser im Stil der Neuen Sachlichkeit aus dieser Zeit, die zum Glück in der DDR wiederaufgebaut worden sind. Das zweite, das winkelförmige Alexanderhaus, liegt im blinden Fleck hinter der Haus ganz links.
Die Seitenbebauung links hat ebensowenig den Krieg überdauert wie das Kaufhaus Tietz in der Bildmitte, das die Nazis zu "Hertie" gemacht haben, 1933, in der sogenannten "Arisierung". Ich erinnere mich mit Grausen daran, wie mit extrem wenig Fingerspitzengefühl die Hertiekette (sowie andere früher jüdische Kaufhäuser) in der Westrepublik mit visuellem Getöse das 55. Firmenjubiläum gefeiert hat — bei kompletter Ausblendung der Gründungsgeschichte. Ich weiß nicht, ob die Kaufhäuser das damals durchgezogen oder abgebrochen haben. Ich habe 1988 in Paris studiert, die Anfänge des Jubiläumsjahrs nur in Form einer Plastiktüte aus Deutschland gesehen.
Heute gedenke ich des Friedens. Heute vor 77 Jahren wurde Nazideutschland befreit, auch gemeinsam von russischen und ukrainischen Soldaten. Und ich schreibe über Baugeschichte, weil mir zu aktuellen Kriegsthemen die Stimme versagt.
Der Berliner Alexanderplatz im Mai 1945 |
Zu DDR-Zeiten stand hier wieder ein Kaufhaus, das "Centrum Warenhaus" mit einer Wabenfassade, die den westdeutschen Nachkriegs-Wabenfassaden der Niederlassungen einer gewissen "Horten AG", "gegründet" 1936, in Nichts nachstand; heute ist dort eine Filiale der Galeria Kaufhof.
Sehr weit links vom Foto, außerhalb des Frames, lag das Polizeipräsidium, in das ich im Geiste in den letzten drei Monate ein- und ausgegangen bin, als ich nämlich endlich die Kriminalromane um Volker Kutschers Ermittler Gereon Rath (*) gelesen habe, eine "Zwingburg" aus roten Ziegelsteinen. Rot ist auch das Gestein, aus dem das der Anzahl der Läden zufolge größte Einkaufszentrum Berlins gebaut worden ist, das an dieser Stelle seit 2007 die Kunden erfreut. (Menschen, die eher visuell unterwegs sind und die noch dazu die Geschichte des Ortes im Hinterkopf haben, erfreut so ein Trumm, das zudem die ewiggleichen Ketten beherbergt, indes gar nicht.) Und in der Nähe der einstigen Apotheke hat 2009 ein Medien- und Elektronikkaufhaus aufgemacht.
Sehr lebendig ist der einst quirligste Platz der Stadt heute nicht mehr, eher eine tote Einkaufsmeile, kulturvoll auch nicht. Wobei: Ein Hort der Kultur war der Alex ab den späten 1920-er Jahren vermutlich nicht mehr, aber er hatte eine andere Aura und hat nicht zufällig dem Roman "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin seinen Namen gegeben.
Sehr viel früher war der Alexanderplatz der zentrale Viehmarkt vor den Toren der Stadt gewesen. Viele weitere Bilder und Episoden zum Ort finden sich bei Johannes und Alexander Glintschert bzw. "Anderes.Berlin", einer echten Fundgrube. Das Foto der Zerstörung da oben aus einem russischen Pressearchiv sieht irritierend aktuell aus, wenn ich es mit den Bildern vergleiche, die wir derzeit aus der Ukraine erhalten.
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Foto: ITAR-TASS (koloriert)
(*) die Romanvorlage zu "Babylon Berlin"
2 Kommentare:
Mir ist im Jahr 1988 durch die zahlreichen 50jährigen Firmenjubiläen klargeworden, wieviele Einzelhandelsgeschäfte Profiteure der Arisierung waren.
Oh ja, das war ein Moment der Erkenntnis und der Scham. Nach Paris hatte sich eine Plastiktüte verirrt in einen Seminarsaal der Sorbonne, und der Kontrast von historisch beeinflusstem, bildungsbürgerlichem Understatement auf der einen und schreienden Farben, die Jubliäum und Sonderangebote priesen auf der anderen Seite hätten größer kaum sein können!
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