Sonntag, 8. Mai 2022

Schichtenweise Alex am 8. Mai

Will­kom­men auf den Seiten des digi­talen Arbeits­ta­ge­buchs aus der Welt einer Dol­met­scherin und Über­setzerin. Was ich im Be­ruf so erfahre und wie mein Le­ben auch meine Sicht­wei­se ver­än­dert, davon berichte ich hier. Sonn­tags­bild!

Wir sind im Herzen der Stadt, am "Alex": Auf der rechten Seite außerhalb des Aussschnitts (hier ein Link, dann su­chen nach Jung'sche Apo­the­ke) stand bis in die Mit­te der 1920-er Jah­re die Apo­the­ke "Zum schwar­zen Adler", in der ab Herbst 1847 Theo­dor Fon­tane für ar­me Ar­bei­ter­kinder Große Mengen Leber­trans in Fla­schen ge­füllt hat, von dem sehr viel in Tran­fun­zeln ge­lan­det sein muss. Frühe Ener­gie­pro­ble­me! 1848 hat Fontane hier den März­auf­stand mit­er­lebt und wie aus dem Fun­dus des be­nach­bar­ten König­städti­schen The­aters die Re­qui­si­ten­säbel und an­dere Theater­de­ko für den Auf­stand ge­maust wor­den sind. Das Thea­ter wur­de dann in der 2. Hälfte der 1920er ab­ge­ris­sen, ein früher Tribut an den ent­ste­hen­den Mas­sen­ver­kehr, genauer: den U-Bahn-Bau.

Auch die Apo­the­ke ver­schwand im Rah­men dieser Platz­neu­ge­stal­tung. Das moder­ne Ge­bäude rechts vom an­ge­schnit­te­nen Erd­ge­schoss ist das Bero­lina­haus des Ar­chi­tek­ten Pe­ter Beh­rens, eines der Zwil­lings­häu­ser im Stil der Neuen Sach­lich­keit aus die­ser Zeit, die zum Glück in der DDR wie­der­auf­ge­baut worden sind. Das zwei­te, das win­kel­för­mige Ale­xan­der­haus, liegt im blinden Fleck hin­ter der Haus ganz links.

Die Seit­en­be­bau­ung links hat eben­so­wenig den Krieg über­dau­ert wie das Kaufhaus Tietz in der Bild­mit­te, das die Nazis zu "Hertie" ge­macht haben, 1933, in der so­ge­nann­ten "Ari­sie­rung". Ich erin­ne­re mich mit Grau­sen daran, wie mit extrem wenig Fin­ger­spit­zen­ge­fühl die Hertie­ket­te (sowie an­de­re frü­her jüdische Kauf­häu­ser) in der West­re­publik mit vi­su­el­lem Ge­tö­se das 55. Fir­men­ju­bi­läum gefei­ert hat — bei kom­plet­ter Aus­blen­dung der Grün­dungs­ge­schichte. Ich weiß nicht, ob die Kauf­häu­ser das da­mals durch­ge­zo­gen oder ab­ge­bro­chen haben. Ich habe 1988 in Paris stu­diert, die Anfän­ge des Jubi­läums­jahrs nur in Form ei­ner Plas­tik­­tü­­te aus Deutsch­land ge­se­­hen. 

Heu­te ge­denke ich des Frie­dens. Heute vor 77 Jah­ren wur­de Nazi­deutsch­land be­freit, auch ge­mein­sam von rus­si­schen und ukrai­ni­schen Sol­daten. Und ich schrei­be über Bau­ge­schich­te, weil mir zu aktu­ellen Kriegs­themen die Stimme ver­sagt.

Ruinen und Schutt
Der Berliner Alexanderplatz im Mai 1945

Zu DDR-Zeiten stand hier wieder ein Kaufhaus, das "Centrum Warenhaus" mit einer Waben­fas­sade, die den west­deut­schen Nach­kriegs-Wa­ben­fas­sa­den der Nieder­las­sun­gen einer ge­wis­sen "Hor­ten AG", "gegrün­det" 1936, in Nichts nach­stand; heute ist dort eine Filiale der Galeria Kaufhof.

Sehr weit links vom Foto, außer­halb des Frames, lag das Polizeipräsidium, in das ich im Geis­te in den letzten drei Mo­na­te ein- und aus­ge­gangen bin, als ich nämlich endlich die Kri­mi­nal­ro­mane um Volker Kut­schers Er­mitt­ler Gere­on Rath (*) gele­sen habe, eine "Zwing­burg" aus roten Ziegel­stei­nen. Rot ist auch das Ge­stein, aus dem das der An­zahl der Läden zu­fol­ge größ­te Ein­kaufs­zen­trum Berlins ge­baut worden ist, das an die­ser Stelle seit 2007 die Kunden erfreut. (Men­schen, die eher vi­su­ell un­ter­wegs sind und die noch dazu die Ge­schich­te des Ortes im Hin­ter­kopf haben, er­freut so ein Trumm, das zudem die ewig­glei­chen Ket­ten be­her­bergt, indes gar nicht.) Und in der Nähe der eins­ti­gen Apo­the­ke hat 2009 ein Me­dien- und Elek­tro­nik­kauf­haus auf­ge­macht.

Sehr le­ben­dig ist der einst quirligste Platz der Stadt heute nicht mehr, eher eine tote Einkaufsmeile, kul­tur­voll auch nicht. Wo­bei: Ein Hort der Kul­tur war der Alex ab den spä­ten 1920-er Jah­ren ver­mut­lich nicht mehr, aber er hatte eine andere Aura und hat nicht zufäl­lig dem Roman "Berlin Alexan­der­platz" von Alfred Döblin seinen Na­men gegeben.

Sehr viel früher war der Alexan­der­platz der zen­tra­le Viehmarkt vor den Toren der Stadt gewesen. Viele weitere Bilder und Episoden zum Ort finden sich bei Jo­han­nes und Alex­an­der Glint­schert bzw. "An­de­res.Ber­lin", einer ech­ten Fund­grube. Das Foto der Zer­stö­rung da oben aus einem rus­si­schen Pres­se­ar­chiv sieht ir­ri­tie­rend aktu­ell aus, wenn ich es mit den Bil­dern ver­glei­che, die wir der­zeit aus der Ukra­ine er­hal­ten.

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Foto:
ITAR-TASS (koloriert)
(*) die Romanvorlage zu "Babylon Berlin"

2 Kommentare:

N. Aunyn hat gesagt…

Mir ist im Jahr 1988 durch die zahlreichen 50jährigen Firmenjubiläen klargeworden, wieviele Einzelhandelsgeschäfte Profiteure der Arisierung waren.

caro_berlin hat gesagt…

Oh ja, das war ein Moment der Erkenntnis und der Scham. Nach Paris hatte sich eine Plastiktüte verirrt in einen Seminarsaal der Sorbonne, und der Kontrast von historisch beeinflusstem, bildungsbürgerlichem Understatement auf der einen und schreienden Farben, die Jubliäum und Sonderangebote priesen auf der anderen Seite hätten größer kaum sein können!