Samstag, 7. Mai 2022

Intensität (6)

Herz­lich will­kom­men! Hier bloggt ei­ne Dol­met­sche­rin. Was Kon­fe­renz­dol­met­scher und Über­setzer machen, und na­tür­lich auch wir Frau­en im Be­ruf, wie sie bzw. wir ar­beiten, ist hier seit 2007 re­gel­mä­ßig Thema. Der große Ein­bruch kam März '20. Heute ein CO­VIDiary-Nach­trag, denn lang­sam nor­ma­li­siert es sich und ist al­les an­deres als nor­mal. Die sams­täg­li­chen Lieb-Links der Wo­che fol­gen mor­gen.

Die Woche war wie er­war­tet be­son­ders: Es war die vier­te vol­le Ar­beits­wo­che seit Be­ginn der Pan­de­mie.

Wir können immer nur eine Seite nutzen

Als wir ab März 2020 Um­satz­ein­brüche um phasenweise 90, 100 Prozent zu verzeich­nen hat­ten, wussten ganz be­son­ders schlaue Menschen in alt­vä­ter­li­cher oder altmüt­ter­li­cher Manier längst be­scheid: "Ach, da wird es nach Co­ro­na doch Nach­hol­ef­fekte geben!"

(Und dann hieß es weiter: "Nein, Ihr braucht keine wirk­lich sub­stan­ziel­len Corona-Wirt­schafts­hil­fen!")

Die Zeit "nach Co­ro­na" lässt weiter auf sich warten, aber trot­zdem kann ich eine viel­leicht auch etwas späte Ant­wort geben: Nein, das Ar­gu­ment mit dem Auf­holen stimmt nicht.

Ende April 2022 geht nach 26 Monaten na­he­zu ohne echte Kon­fe­ren­zen, Stu­dien- und De­lega­tions­rei­sen das wirk­liche Berufs­leben der Kon­ferenz­dol­met­scher:innen (vor­läu­fig) wei­ter. Nor­ma­ler­weise arbeiten wir ma­xi­mal zwei oder drei Ta­ge die Woche direkt bei den Kun­den, der Rest der Woche ist für die Vor­be­rei­tung re­ser­viert und, nicht ganz unwichtig, für die Er­ho­lung.

POV der berichtenden Dolmetscherin kurz vor der Übergabe
Dieser Tage bekommen wir An­fragen für zehn Tage die Woche rein. DAS sieht nach Nach­hol­ef­fekt aus und ist nur bedingt einer, denn wir müssen wei­ter­ge­ben oder ab­sa­gen. Im End­ef­fekt sagen die meisten von uns an vier Tagen der Woche zu. Man­che Kund:in­nen ver­ta­gen sich auf den Sep­tem­ber. Ab Oktober gähnt üb­ri­gens wieder Leere im Kalender.

Bei den Zusagen bremsen wir uns selbst, denn Mutter Natur hat uns Grenzen auf­er­legt, an die wir lange nicht mehr den­ken mussten.

Indes, die Ver­an­stal­ter:innen kennen einen Trick: Um mög­lichst viele zu­frie­den­zu­stellen, haben sie die Pro­gramme verdichtet. Früher ging die Sache so: Stu­dien­rei­se nach Berlin, drei Tage im Kon­fe­renz­­raum oder bei Firmen, For­schungs­zen­tren etc. als Teil des Be­suchs­pro­gramms sowie ein Tag Au­ßen­ak­ti­vi­täten, Stadt­füh­rung, Team building und in Eigenregie. Jetzt lautet die For­mel der Studienreise nach Berlin eher so: zwei Tage im Kon­fe­renz­raum, zwei Tage Au­ßen­ak­ti­vi­täten.

Ich kürze ab und nenne als Bei­spiel das Pro­gramm von Dienstag: Zwei Kol­le­ginnen dol­metschen von 8.00 Uhr im hoteleigenen Kon­fe­renenz­raum, ein weiteres Zwei­er­team übernimmt den Nach­mit­tag, der bis in den Abend reicht. Einmal ging diese Woche der letzte Termin um 19.00 Uhr los. Das war am zweiten Stu­dien­rei­se­tag einer Gruppe. Am Vortag waren die Herr­schaf­ten in Paris um fünf Uhr auf­ge­stan­den, um recht­zeitig zum Flieger zu kommen, und hat­ten dann am Abend eine der Berliner rus­ti­ka­len Schank­wirt­schaf­ten auf­ge­sucht. Keine Über­raschung: Es gab nach diesem Vortrag nur eine ein­zige Fra­ge aus dem Publikum.

Und un­ser­eine(r) er­kennt sich selbst nicht mehr. Wegen der langen Tage (und des hohen Adre­na­lin­pe­gels) fällt abends das Ein­schla­fen schwer. Morg­ens wachen wir schwer und spät auf (wegen des späten Ein­schla­fens). Seit vielen, vielen Jah­ren habe ich an einem Sams­tag in gesun­dem Zustand nicht mehr bis nach 12.00 Uhr geschlafen! Und dann aus­ge­rech­net heu­te, wo ich um 10.00 Uhr ei­nen Buch­ab­hol­termin gehabt hätte. (Ich über­neh­me einiges Second hand, seit ich nicht mehr in Frankreich lebe.) Statt Freu­de über die er­folg­reich ge­meis­ter­te Woche also mit­täg­li­che Zer­knir­schung.

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Foto:
C.E.

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