Der Redner wechselt von Körper- zu Kopfstimme. Das ist ein klares Anzeichen von Stress. Er berichtet über das soziale Deutschland, über "Arbeitsscheue", "Hartz-IV-Dynastien", über "Fitmachen" für die Arbeitswelt und über die "soziale Hängematte".
Gesehen in Neukölln |
Wir sind bei einem Hintergrundgespräch in irgendeiner Regierungsstelle, Vertreter des Staats und ein Kirchenmann, französischsprachige Gäste. Der Kirchenmann fängt nun an, von einem ganz anderen Menschenbild zu sprechen. Obwohl keiner Glaubensgruppe angehörig, gefällt mir diese Darstellung viel besser. Zumal es ja eigentlich gar kein Problem mit Arbeitslosen gibt, sondern nur mit der oft mangelnden Bildung, mit Art und Menge sowie der Verteilung der Arbeit.
In der Kaffeepause spricht mich Redner Nummer Eins an. Wie lange es denn brauchen würde, bis meine Arbeit von Maschinen erledigt werden würde, fragt er. Das kommt nie, sage ich, denn Menschen sind immer zu komplex und zu individuell in ihren Äußerungen, vermischen Soziolekte, stottern und springen in den Gedanken. Um dem zu folgen, braucht es ein menschliches Gehirn. Und ich deute an, dass mir die Worte des Geistlichen viel besser gefallen hatten als seine. Der Kritisierte schaut sich kurz um und sagt dann mit leiser Stimme, dass er hier die Meinung seines Amtes wiedergegeben habe, nicht seine eigene. Die Verabschiedung erfolgt mit Handschlag und Augenzwinkern.
Neusprech — Newspeak — Novlangue
bildungsferne Bürger — bildungsferngehaltene Bürger
sozial schwache Menschen — wirtschaftlich schwache Menschen
Leistungsloses Einkommen bezeichnet in meinen Ohren nicht den Bezug von Hartz IV, sondern Renditen und rentenähnliche Einkommenssituationen aufgrund der ungerechten Vermögensverteilung. Die Übersetzung gains sans avoir à fournir de travail ist mir zu lang. Mal schauen, was sich neben une rente künftig einbürgert.
P.S.: Die Frage wird oft gestellt, wie es mir denn damit gehe, Meinungen zu verdolmetschen, die ich nicht teile. Mir geht es total gut damit, denn ich übertrage Stimmen im Meinungsaustausch, und da ist es gleich, ob es Wörter sind, die in der Medienarbeit gebraucht werden oder in der Politik. Es ist eine zutiefst demokratische Arbeit. Und weil oft kaum jemand dafür zahlt, dass sich auch die Schwächsten der Schwachen ausdrücken können, bin ich daneben ehrenamtlich in der Arbeit mit Geflüchteten tätig.
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Foto: C.E. (Archiv); Gruß + Dank an M.W.
(MUC) für die Erinnerung an ein Wort!
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