Dienstag, 30. August 2016

Novlangue

Hier be­grüßt Sie ei­ne Sprach­ar­bei­te­rin, auf de­ren Sei­ten Sie ge­­plant oder zu­­fäl­­lig ge­lan­det sind. Ob in Berlin, Paris, Schwerin oder Lille, ich arbeiter überall als Dol­met­schern und Übersetzerin. Als Berufssprecher hören wir jede Form der Stimm­ver­än­de­rung, die meistens auf Inhalte zurückgeht.

Der Redner wechselt von Körper- zu Kopfstimme. Das ist ein klares Anzeichen von Stress. Er berichtet über das soziale Deutschland, über "Arbeitsscheue", "Hartz-IV-Dynastien", über "Fitmachen" für die Arbeitswelt und über die "soziale Hän­ge­mat­te".

Gesehen in Neukölln
Das ist die Sichtweise, bei der Menschen nur nach ihrer Teilnahmemöglichkeit am Er­werbs­le­ben beurteilt werden. Eine ziem­­lich einseitige Wahrnehmung, wie ich finde.
Wir sind bei einem Hin­ter­grund­ge­spräch in irgendeiner Regierungsstelle, Vertreter des Staats und ein Kirchenmann, fran­zö­sisch­spra­chige Gäste. Der Kirchenmann fängt nun an, von einem ganz anderen Menschenbild zu sprechen. Obwohl keiner Glaubensgruppe angehörig, gefällt mir diese Darstellung viel besser. Zumal es ja eigentlich gar kein Problem mit Ar­beits­lo­sen gibt, sondern nur mit der oft man­geln­den Bildung, mit Art und Menge sowie der Verteilung der Arbeit.

In der Kaffeepause spricht mich Redner Nummer Eins an. Wie lange es denn brau­chen würde, bis meine Arbeit von Maschinen erledigt werden würde, fragt er. Das kommt nie, sage ich, denn Menschen sind immer zu komplex und zu individuell in ihren Äußerungen, vermischen Soziolekte, stottern und sprin­gen in den Ge­dan­ken. Um dem zu folgen, braucht es ein menschliches Gehirn. Und ich deute an, dass mir die Worte des Geistlichen viel besser gefallen hatten als seine. Der Kri­ti­sier­te schaut sich kurz um und sagt dann mit leiser Stimme, dass er hier die Meinung sei­nes Amtes wiedergegeben habe, nicht seine eigene. Die Verabschiedung erfolgt mit Handschlag und Augenzwinkern.

NeusprechNewspeak Novlangue
bildungsferne Bürger — bildungsferngehaltene Bürger
sozial schwache Menschen — wirtschaftlich schwache Menschen
Leistungsloses Einkommen bezeichnet in meinen Ohren nicht den Bezug von Hartz IV, sondern Renditen und rentenähnliche Einkommenssituationen aufgrund der un­ge­rech­ten Vermögensverteilung. Die Übersetzung gains sans avoir à fournir de tra­vail ist mir zu lang. Mal schauen, was sich neben une rente künftig einbürgert.


P.S.: Die Frage wird oft gestellt, wie es mir denn damit gehe, Meinungen zu ver­dol­met­schen, die ich nicht teile. Mir geht es total gut damit, denn ich übertrage Stim­men im Meinungsaustausch, und da ist es gleich, ob es Wörter sind, die in der Me­dien­ar­beit gebraucht werden oder in der Politik. Es ist eine zutiefst de­mo­kra­ti­sche Arbeit. Und weil oft kaum jemand dafür zahlt, dass sich auch die Schwächsten der Schwachen ausdrücken können, bin ich daneben ehrenamtlich in der Arbeit mit Ge­flüch­te­ten tätig.
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Foto: C.E. (Archiv); Gruß + Dank an M.W.
(MUC) für die Erinnerung an ein Wort!

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