Guten Tag oder guten Abend! Zufällig oder absichtlich haben Sie eine Seite meines digitalen Arbeitstagebuchs aufgeschlagen. Hier denke ich über Berufsalltag nach, über die Welt der Konferenzdolmetscher und Übersetzer. Diese Woche: Rückblick auf einen Junitermin.
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Diskussion nach der Lesung. Hinter den Rednern zu sitzen, bedeutet ohne Blick aufs Mundbild zu arbeiten. |
Spontan nach einem Interview, das es zu führen und zu übertragen galt, noch eine Publikumsveranstaltung anzunehmen, das machen vermutlich nicht viele Dolmetscher. Für micra war es neulich eine Ehrensache. Erstens weil etliche infragekommende Kolleginnen keine Zeit hatten oder zum Teil gar nicht in Berlin waren.
Zweitens weil es für die gute Sache war. Drittens musste ich nur einmal kurz über'n Damm laufen, um von einem "Austragungsort" zum anderen zu gelangen.
Im Haus des ZDF in Mitte war zunächst ein berühmter Filmschaffender zu verdolmetschen, ich saß als visueller Konterpart in der Sichtachse und formulierte die Fragen empfängergerecht, nahm ein wenig vom Erstaunen des französischsprachigen Fragenden weg und fügte einige Nuancen und Nebensätze ein. Das darf ich hier — und auch nur hier! — , da ich dem Regisseur seit etlichen Jahren gut bekannt bin und daher nicht nur dolmetsche. Ich bin als Interviewerin am Film beteiligt, führe auch eigenständig Gespräche und stehe am Ende als dramaturgische Beraterin zur Verfügung. Vielleicht werde ich schließlich sogar erneut als deutsche Koproduzentin fungieren.
Dann eilte ich in ein großes Autohaus mit Konferenzraum. Hier finden regelmäßig Lesungen mit anschließendem Gespräch statt, diese hier zugunsten zweier Schulen in Haiti. Ein kleiner Dolmetschkoffer ermöglichte mir, den drei ausschließlich französischsprachigen Menschen im Raum simultan "zuzuflüstern", was auf Deutsch gesagt wurde; die rein französischsprachigen Redebeiträge übertrug ich konsekutiv (also in kurzen Redepausen) ins Deutsche.
Solcherart sind Einsätze außerhalb der Kabine. Es ging also mit der Lesung los. Schauspielerin
Alissa Jung stellte selbst festgelegte Ausschnitte aus dem Buch
"Und plötzlich tut sich der Boden auf" von Yanick Lahens
vor und ich "flüsterte" die gleichen Passagen in mein Mikrofon, das Buch in der Originalfassung vor mir auf dem Tisch. Die Chose erwies sich als ganz schön irritierend, denn Alissas Stimme wurde über Lautsprecher übertragen, die ihren Namen zurecht trugen. Ich legte beide Hände wie vergrößerte Hörmuscheln an die Ohren, um mich selbst besser hören zu können. Denn einfach nur sprechen, ohne sich selbst zu hören, klappte irgendwie nicht, da fehlte mir die kopfeigene "Hinterbandkontrolle".
(Auf die Idee, mir den Rückkanal über ein Empfangsgerät der Flüsteranlage zu holen, meine Stimme dann vielleicht nur auf 1,5 Ohren zu hören, um mich besser auf das eigene Sprechen konzentrieren zu können, bin ich leider zu spät gekommen. Ich schreibe die Idee jetzt hier auf, um mir den Trick fürs nächste Mal zu merken.)
Etwa die Hälfte der Zeit hindurch waren wir fast synchron, dann hatten wir offenbar vergessen, einige Auslassungen des Lesetexts auch in der Originalfassung zu übernehmen. Jedenfalls bekam ich im letzten Drittel einen tüchtigen Überhang. Da die Lesestellen unterschiedliche Dynamiken hatten, es gab dramatische Passagen, stille, dialogische, hatte das Ganze (aus meiner Perspektive) den Charakter eines zunächst harmonischen, dann immer mehr divergierenden Paartanzes.
Zu sprechen war es jedenfalls nicht leicht, sicher für beide nicht, wobei ich, wie ich fürchten muss, den schwereren Part hatte. Meine Muskeln verkrampften wegen des "Ohrenabschirmens" zusehends; auch hatte ich die Passagen "nur" im Laptop, sie waren im Word-Manuskript farbig markiert, und nicht über eine zu (er)findende Form "digitaler Reiter". Alissa jedenfalls konnte im Hardcoverbuch schnell weiterblättern ... während ich aufwendiger suchen musste.
Die ganze Veranstaltung lief übrigens ohne Probe ab. Der Gedanke an die "sprachliche Tanzperformance" half mir, den Job durchzustehen, der ein enormes Maß an Konzentration erforderte. Denn nebenbei galt es einen Text zu sprechen, den ich erst einmal gelesen hatte, ich bin ja kurzfristig eingesprungen, der zudem viele Eigen- und Ortsnamen aufwies ... und dessen Inhalt schlicht an die Nieren geht. Ja, einige Male habe ich mich schon verstolpert (und das hat mir wehgetan).
Was alles wieder gut machte: Eine der Beflüsterten kam am Ende auf uns zu. Dank der Literatur sei sie in der knappen Stunde der Lesung "regelrecht in Haiti gewesen". Wir Vermittler sind immer dann gut, wenn man uns möglichst nicht bemerkt.
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Foto: Danke an Manfred Schweiker!