Sonntag, 7. Juli 2013

Autobiofiktion

Die­ses Blog ist mein Log­buch aus der Ka­bi­ne. Die Ka­bi­ne ist die von Kon­fe­renz­dol­met­schern. Sie steht an wech­seln­den Orten und ist manch­mal auch nur vir­tu­ell vor­han­den. Ge­le­gent­lich ist sogar die Au­to­rin vir­tu­ell.

Letzten Februar, parallel zu den Berliner Filmfestspielen, wurde dieses Ar­beits­ta­ge­buch sechs Jahre alt. In der schnell­le­bi­gen Netzwelt ist das schon ver­dammt lang. Wie kann es sein, dass hier neben dem for­dern­den Dol­metscher- und Übersetzerberuf so ein um­fang­rei­ches Blog entsteht?

Und wer spricht hier eigentlich?

Eines meiner Geheimnisse: Meine Notizen sind nur selten aktuell. Das mag ver­wun­dern, denn es ist ein Vorteil des digitalen Zeitalters, schnell zu sein. Schnell muss ich aber schon in der Kabine sein, das geht im Blog nicht auch noch. 

In Zeiten, in denen Hochfrequenzmärkte im Nano-Sekundentakt arbeiten und sich an manchen Tagen die Nachrichten nur so überschlagen, ist es zudem mein Glück, Privileg und Luxus, nicht alles sofort umsetzen zu müssen. Ich kann Themen ab­hän­gen lassen oder, um ein anderes Bild zu bemühen: sie eindampfen. Drittes Bild: Aus der Nähe sehe ich Details gut, habe Eindrücke; das ganze Tableau lässt sich oft nur mit Abstand gut erkennen. 

Und noch einen Grund gibt's fürs Nicht-Aktuelle. Oft dolmetsche ich in ver­trau­li­chen Situationen. Mein Fokus beim Bloggen liegt ohnehin vor allem auf den Din­gen, die sich hinter den Kulissen abspielen. Und weil ich meine Redner und "Ziel­ohren" nicht erschrecken will und darf, fasse ich Episoden zusammen, ver­la­ge­re sie an andere Orte, verschiebe sie in der Zeit, greife zu Fotos von anderen Ein­sätzen, die ich dann auch noch verändere — und schon bin ich da angelangt, wo ich hinwill: Ich kann vom Allgemeingültigen unseres Berufsalltags berichten.

Trotzdem wird mir oft die Zeit knapp, mancher Eintrag gerät mir zu lang. Ich lade die Texte dann mit schlechtem Gewissen hoch und denke dabei an Plinius den Älteren, der an Plinius den Jüngeren geschrieben haben soll (oder war es an­ders­he­rum?): "Entschuldige bitte meinen langen Brief, ich hatte zu wenig Zeit."

Und warum der ganze Aufwand? Jedes Jahr zum girls day bekommen wir An­fra­gen, ob uns eine Schülerin begleiten kann. Außerdem erhalten wir viele Prak­ti­kums­be­wer­bungen. Das ist alles leider nicht praktikabel. Während wir sprechen, können wir nicht gleichzeitig in die Meta-Ebene gehen und erklären, was wir tun. Menschen beim Nachdenken zuzusehen macht nicht klüger. Also schreibe ich hier.

Last but not least: Die Nachfrage nach Sprach­dienst­leistungen nimmt zu, das Wissen um unsere Arbeitsweise nimmt eher ab. Ich möchte mit­hel­fen, dass (potentielle) Kunden besser ihren Teil zu gelingenden Projekten beitragen können.

Bei so vielen hehren Zielen wird es nicht ver­wun­dern, dass manches hier berichtete Mo­ment nicht von mir stammt, sondern von den ver­trau­ens­wür­di­gen Ko-Kabinen beigesteuert wird. Wer spricht hier? Das berichtende "Ich" ist ähnlich virtuell wie das Kabinenlogbuch an sich.

Das Ganze ist Autobiofiktion.


Sonntagsbilder: Leser im öffentlichen Raum, mein derzeitiges Sammelprojekt zur Gestaltung eines Plakats in Mosaiktechnik. Mehr darüber hier.
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Foto: C.E. (Archiv)

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