Mittwoch, 10. Juli 2013

Lesung für Haiti

Gu­ten Tag oder gu­ten Abend! Zu­fäl­lig oder ab­sicht­lich ha­ben Sie ei­ne Sei­te mei­nes di­gi­ta­len Arbeits­ta­ge­buchs auf­ge­schla­gen. Hier den­ke ich über Berufs­all­tag nach, über die Welt der Kon­fe­renz­dol­met­scher und Über­setzer. Diese Woche: Rückblick auf einen Junitermin.

Diskussion nach der Lesung. Hinter den Rednern zu sitzen,
bedeutet ohne Blick aufs Mundbild zu arbeiten
.
Spontan nach einem In­ter­view, das es zu führen und zu übertragen galt, noch eine Publikumsveranstaltung an­zu­neh­men, das machen ver­mut­lich nicht viele Dol­met­scher. Für micra war es neulich eine Ehrensache. Erstens weil et­li­che infragekommende Kol­le­gin­nen keine Zeit hatten oder zum Teil gar nicht in Berlin waren.

Zwei­tens weil es für die gute Sache war. Drittens musste ich nur einmal kurz über'n Damm laufen, um von einem "Austragungsort" zum anderen zu gelangen.

Im Haus des ZDF in Mitte war zunächst ein berühmter Film­schaf­fender zu ver­dol­met­schen, ich saß als visueller Konterpart in der Sichtachse und formulierte die Fragen empfängergerecht, nahm ein wenig vom Erstaunen des fran­zö­sisch­spra­chigen Fragenden weg und fügte einige Nuancen und Nebensätze ein. Das darf ich hier — und auch nur hier! — , da ich dem Regisseur seit etlichen Jahren gut be­kannt bin und daher nicht nur dolmetsche. Ich bin als Interviewerin am Film be­tei­ligt, führe auch eigenständig Gespräche und stehe am Ende als dra­ma­tur­gi­sche Beraterin zur Verfügung. Vielleicht werde ich schließlich sogar erneut als deutsche Ko­pro­du­zen­tin fungieren.

Dann eilte ich in ein großes Autohaus mit Konferenzraum. Hier finden regelmäßig Lesungen mit anschließendem Gespräch statt, diese hier zugunsten zweier Schulen in Haiti. Ein kleiner Dolmetschkoffer ermöglichte mir, den drei ausschließlich fran­zö­sisch­sprachigen Menschen im Raum simultan "zuzuflüstern", was auf Deutsch gesagt wurde; die rein französischsprachigen Redebeiträge übertrug ich konsekutiv (also in kurzen Redepausen) ins Deutsche.

Solcherart sind Einsätze außerhalb der Kabine. Es ging also mit der Lesung los. Schau­spielerin Alissa Jung stellte selbst festgelegte Ausschnitte aus dem Buch "Und plötzlich tut sich der Boden auf" von Yanick Lahens vor und ich "flüsterte" die gleich­en Passagen in mein Mikrofon, das Buch in der Originalfassung vor mir auf dem Tisch. Die Chose erwies sich als ganz schön irritierend, denn Alissas Stimme wurde über Lautsprecher übertragen, die ihren Namen zurecht trugen. Ich legte beide Hände wie vergrößerte Hörmuscheln an die Ohren, um mich selbst besser hören zu können. Denn einfach nur sprechen, ohne sich selbst zu hören, klappte ir­gend­wie nicht, da fehlte mir die kopfeigene "Hinterbandkontrolle".

(Auf die Idee, mir den Rückkanal über ein Empfangsgerät der Flüsteranlage zu ho­len, meine Stimme dann vielleicht nur auf 1,5 Ohren zu hören, um mich besser auf das eigene Sprechen konzentrieren zu können, bin ich leider zu spät ge­kom­men. Ich schreibe die Idee jetzt hier auf, um mir den Trick fürs nächste Mal zu merken.)

Etwa die Hälfte der Zeit hindurch waren wir fast synchron, dann hatten wir of­fen­bar vergessen, einige Auslassungen des Lesetexts auch in der Originalfassung zu über­neh­men. Jedenfalls bekam ich im letzten Drittel einen tüchtigen Überhang. Da die Lesestellen unterschiedliche Dynamiken hatten, es gab dramatische Pas­sa­gen, stille, dialogische, hatte das Ganze (aus meiner Perspektive) den Charakter eines zunächst harmonischen, dann immer mehr divergierenden Paartanzes.

Zu sprechen war es jedenfalls nicht leicht, sicher für beide nicht, wobei ich, wie ich fürchten muss, den schwereren Part hatte. Meine Muskeln verkrampften we­gen des "Ohrenabschirmens" zusehends; auch hatte ich die Passagen "nur" im Lap­top, sie waren im Word-Manuskript farbig markiert, und nicht über eine zu (er)­fin­dende Form "digitaler Reiter". Alissa jedenfalls konnte im Hardcoverbuch schnell weiterblättern ... während ich aufwendiger suchen musste.

Die ganze Veranstaltung lief übrigens ohne Probe ab. Der Gedanke an die "sprach­li­che Tanzperformance" half mir, den Job durchzustehen, der ein enormes Maß an Kon­zen­tra­tion erforderte. Denn nebenbei galt es einen Text zu sprechen, den ich erst einmal gelesen hatte, ich bin ja kurzfristig eingesprungen, der zudem viele Eigen- und Orts­namen aufwies ... und dessen Inhalt schlicht an die Nieren geht. Ja, einige Male habe ich mich schon verstolpert (und das hat mir wehgetan).

Was alles wieder gut machte: Eine der Beflüsterten kam am Ende auf uns zu. Dank der Literatur sei sie in der knappen Stunde der Lesung "regelrecht in Haiti ge­we­sen". Wir Vermittler sind immer dann gut, wenn man uns möglichst nicht bemerkt.

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Foto: Danke an Manfred Schweiker!

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