Mittwoch, 1. Oktober 2008

Einspringen

Manchmal ist in der mehrsprachigen Berliner Welt echt Not am Mann. Oder an der Frau, an der dolmetschenden Frau. Und dann springen wir ein und verhandeln erst hinterher. Sollte man nicht, weiß ich, aber wir sind nun mal Dienstleister! Oder sind wir etwa keine?

Erstes Beispiel: Letztens, ich lag gemütlich am Morgen in der Badewanne und dachte wehmütig an einen Filmstart, in dessen Rahmen ich diesen Tag hätte dolmetschen können, wäre nicht bei den Honorarverhandlungen für den gleichen Tag ein anderer Auftraggeber schneller gewesen. Mit diesem wollte ich mittags Essen gehen, dabei den Einsatz weiter besprechen, der für den Nachmittag anberaumt war, also ließ ich den Morgen ruhig angehen.

Da ich in der Wanne gerne in Ruhe telefoniere, lag das Telefon in Reichweite, klingelte - und nämliche Filmpresseagentur war dran, man hatte plötzlich zu viele Stars für zu wenig Dolmetscher: "Können Sie in ein Taxi springen und herkommen?" Ich konnte. Mein Nachmittagstermin war schriftlich und am Telefon so gründlich vorbereitet worden, dass wir problemlos das Vier-Augen-Vorgespräch auf eine halbe Stunde eindampfen konnten und ich so vor diesem Einsatz mehrere Stunden lang für die Filmstars tätig wurde.
Die Honorarhöhe fanden die Agentur und ich anschließend einvernehmlich. Vor Ort bekamen deren Mitarbeiter erstmalig direkte Reaktionen der Journalisten auf meine Arbeit mit - eine bessere Werbung kann ich mir nicht vorstellen.

Zweites Beispiel: Ein nicht näher genannter Kulturveranstalter, die Episode liegt mindestens fünf Jahre zurück. Für eine Afrika-Filmreihe sprach ich etwa ein Dutzend Filme simultan ein, natürlich nach entsprechender Vorbereitung (wie das geht, steht hier). Vor meinem langen Arbeitseinsatz im bewussten Kulturhause - es stand ein Film mit Überlänge auf dem Programm - war eine kurze Diskussion geplant. Diese dolmetschte nicht ich, sondern andere Dolmetscherinnen, die ich nur vom Sehen kannte. Das war mir sehr recht so, dadurch konnte ich mich voll und ganz auf "meinen" Film konzentrieren.

Der Abend wurde eröffnet, Worte zum Gruß und der Einleitung gesprochen. Wie geplant wurden die Dolmetscherinnen in der Kabine neben mir simultan aktiv. Dann wurde ein Kurzfilm angesagt, der gerade beim Fespaco in Burkina Faso einen Preis erhalten hatte. Der Film wurde mit Untertiteln angekündigt.

Roll the film! Film ab! Vorspann, ich sah noch keine Untertitel. Totale: Eine Straße. Ranfahrt auf eine Telefonzelle, im Off viele, differenzierte Geräusche. Amerikanische: ein Junge am Telefon. Er sagt die ersten Sätze, mir gefriert das Blut. Keine Untertitel! Haben die eine falsche Kopie gekriegt? Haben die keinen Probedurchlauf gemacht? Ich schaue wie die Hausfrau aus der "General"-Werbung erst nach rechts, die Kabine ist leer, dann nach links: die beiden Kolleginnen sortieren noch ihre Papiere für die anstehende, halbstündige Diskussion. Ich klopfe, winke, keine Reaktion. Dann mach ich das Mikro auf, rekonstruiere die ersten Worte des Films und dolmetsche, was ich weder jemals vorher gesehen noch wozu ich auch nur ein Stück Papier in der Hand hatte. Als auf der Leinwand die erste Sprechpause eintritt, klopft es an der Tür meiner Dolmetscherkabine. Doris Hegner, die Leiterin der Filmreihe, steht aufgelöst vor mir, bittet mich, den Film spontan zu dolmetschen ... Ich kann ihr nur bedeuten, dass ich längst dran bin und eher unsanft: "Raus!" rufen, schon gehen die Dialoge weiter. In der zweiten "Wortpause" schiele ich ins Programm, lese die Beschreibung, kämpfe mit dem Adrenalinpegel, sage zu mir selbst: Okay, 15 Minuten Spieldauer und wenn es thematisch nicht schlimmer wird, krieg' ich das gewuppt!
Und so dolmetsche ich. Zwischendurch schaue ich der einen Dolmetscherin in der Nachbarkabine beim Zurechtschneiden eines gesplitterten Fingernagels zu ...

... harter Schnitt: Nach meinem Spontaneinsatz, nach der verdolmetschten Kurzdiskussion und direkt vor dem einzusprechenden Film mit Überlänge, der Adrenalinpegel stieg grad wieder leicht an, baute sich eine der beiden Dolmetscherinnen aus der anderen Kabine vor mir auf und fuhr mich an. Wie ich dazu käme, hier simultan zu machen, das sei ihr Beritt, und außerdem arbeite man nie, ohne vorher über das Honorar verhandelt zu haben. Das solle ich mir gesagt sein lassen!

In der Branche wird mit harten Bandagen gekämpft, weshalb ich im ganzen Text das Wort "Kollegin" bewusst ausgelassen habe.

Für das nicht genannte Kulturhaus dolmetsche ich noch heute.

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P.S.: Der falsche Film war in der richtigen Büchse - und wurde vor dem Publikumseinlass wie üblich "angespielt", um alles richtig einzustellen. Der Geräuschpegel war anfangs hoch genug, so dass der Vorführer nicht noch auf den Beginn der Worte gewartet hatte. Ihm ist kein Vorwurf zu machen, das ist eben Festivalalltag.

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