Berufssänger singen vom Blatt, sie lesen Noten und dazu den Text. Im Idealfall klingt das Ergebnis immer gleich.
Wir Dolmetscher dolmetschen bei Kongressen und festlichen Anlässen mitunter vom Blatt, übertragen mit einem Blick aufs Papier einen Redetext in die Zielsprache. In beiden Fällen geht es um die Übertragung von Zeichen in eine andere 'Darbietungsform'. Beim Dolmetschen vom Blatt ist die Varianz dessen, was am Ende beim Zuhörer ankommen kann, größer. Verschiedene Sätze und Redewendungen ergeben in der Verdolmetschung mitunter mehr oder weniger stark abweichende Sätze in der Wortwahl - und damit möglicherweise in den Konnotationen. Das fällt immer auf, wenn ich mir die Anstrengungen vor das innere Auge rufe, die manche Eröffnungsrede eines Kongresses gekostet hat - und warum ein weitaus schwieriger Text des gleichen Redners, der am Ende der Zusammenkunft steht, mir im Nachhinein viel leichter vorkommt. Die Situation ist rasch erklärt: Ich habe durch den Kongress den Redner kennen gelernt, ihn im Kontext seines Beitrags, seiner Fragen, Moderationen und Einwürfe erlebt und bin mit der jeweiligen Begrifflichkeit und ihren Bezügen vertraut. Und ich habe den Sprachduktus des Sprechers erfahren, kenne ihn oder sie, weiß, dass der Redner auch mal Pausen einlegt, nicht vom Mikro weg spricht und bestenfalls den Blickkontakt zur Kabine sucht, bevor eine neue Folie angeklickt wird.
Bei kurzen, geschriebenen Reden, wie sie zum Beispiel Minister bei der Verleihung von Orden vorlesen, weiß ich das im Normalfall nicht, es sei denn, ich war schon wiederholt mit dem betreffenden Politiker in dieser Situation. Der Stressfaktor bei diesen Anlässen ist um einiges erhöht verglichen mit der eben erwähnten Konferenz, alle Aufmerksamkeit gilt dem Laudator, die Stimmung ist festlich-entspannt und aufmerksam. Und die Worte des Redners wurden über Tage von Redenschreibern geschliffen. Da bin ich immer sehr froh, wenn ich den Text bereits übersetzt vom Sprachendienst des Ministeriums erhalte oder ihn wenigstens im Voraus zugemailt bekomme, so dass ich in Ruhe vorab weite Strecken schriftlich übertragen kann.
Die gelesene Rede als Vorlage dolmetscht sich 'vom Blatt' nicht sehr bequem, denn der Redner denkt ja nicht mehr laut nach, entwickelt seine Gedanken, die aufeinander aufbauen, nicht mehr in einem nachvollziehbaren Tempo, sondern liefert in Kürzestzeit die Ergebnisse zuvor angestellter Überlegungen und komplexe Gedankengänge, die darüber hinaus in einem schriftlichen Duktus vorgetragen sind - also mit Sätzen, die möglicherweise über halbe Absätze reichen, gespickt mit rhetorischen Formen und Bildern aus der Historie oder der Mythologie. Derlei erfindet der Redner nicht ad hoc - und als Dolmetscherin improvisiere ich hier auch nur ungern. Die Erwiderung des neuen Würdenträgers, spontane Toasts und Einwürfe im Anschluss an die Laudatio sind echter Dolmetschanlass genug.
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