Hallo! Sie haben zufällig oder absichtlich eine Seite meines digitalen Arbeitstagebuchs aufgeschlagen. Ich bin Dolmetscherin und Übersetzerin für Politik, Wirtschaft, Medien, Soziales und Kultur. Derzeit lasse ich die Berlinale ausklingen.
1. In der U-Bahn kurz vor dem Potsdamer Platz. Es steigen zwei Südosteuropäer mit einem Verstärker zu, der eine zückt die Fidel, der andere den Hut und geht durch die Reihen. Im gleichen Moment wie ich hebt eine junge Frau ihre Hände zu den Ohren und hält sich diese zu. Wir steigen beide am Potsdamer Platz aus und gehen in stummem Einverständnis zum Filmmarkt.
2. In einer "Generation14 plus"-Aufführung surrt direkt neben mir ein Handy. Fragend sehe ich meine Sitznachbarn an, sie zucken mit den Achseln. Dann surrt es immer wieder. Weil die Sache nervt, treffen uns böse Blicke von vorne und hinten. Getuschel entsteht und wird immer lauter.
Am Ende prüfen alle um uns herum ihre Taschen. Irgendwann gibt der Anrufer auf.
3. Im Delphi: Am besten schläft es sich auf der Berlinale im Kino. Leider schnarcht der
Mann drei Reihen hinter mir ziemlich laut. Die Umsitzenden versuchen,
ihn zu wecken, aber immer wieder gleitet er weg. Schlafen im Film ist an
sich nichts, was uns Festivaliers fremd ist, und es ist, um mit
Godard zu sprechen, Ausdruck in den Vertrauen des Films. Die Kunst
besteht vor allem bei gemütlicheren Streifen darin, strategisch immer
dann aufzuwachen, wenn entscheidende Dinge geschehen. Und natürlich
nicht zu schnarchen.
4. Im wiedereröffneten Zoo-Palast. Der Teppichboden im Pfeffer-und-Salz-Design, Hochflor!, sieht noch gut aus. Die YSL-Premiere hat gerade begonnen, das Kino ist brechend voll. Die Platzanweiser suchen Sitzplätze für VIPs. Als langjährige Berlinale-Mitarbeiterin gebe ich meinen Platz frei. Kommt der Anzugträger mit Wichtig-Wichtig-Miene vom Senat? Auf jeden Fall scheint ihm der Film egal zu sein. Die halbe Vorführung hindurch ist sein Gesicht durch das Smartphone erleuchtet, auf dem er nervös rumtippt. Ich finde keinen Sitz mehr und wundere mich, dass ihm meine bösen Blicke nicht im Rücken jucken. Das Licht stört. (Wer derjenige war, erfuhr ich Tage später bei der Lektüre der Süddeutschen Zeitung. Und "irritiert laufen sie durchs dunkle Kino" ist ... naja, so ein Zeitungsmensch aus dem Filmsektor neigt wohl mitunter zu Dramatisierungen. Und natürlich stehen wir zwischendurch manchmal. Stehen am Kasten, an dem sich die Lautstärke regulieren lässt. Da hat dann auch die Feuerwehr nichts dagegen.)
5. Berlinale-Sport: Der eine möchte möglichst viele Filme aus möglichst vielen Ländern sehen, die andere erklärt die Berlinale dann für vollständig, wenn sie von jeder Sektion mindestens einen Film gesehen hat, wieder ein anderer sammelt Genres. Sich einen Überblick zu verschaffen, ist bei ca. 600 Filmen ohnehin nicht möglich. Allein um den Wettbewerb vollständig zu sehen, saß die Jury knapp 40 Stunden im Kino. Und wer von uns Besuchern und Mitarbeitern dann einen der prämierten Filme erwischt hat, ist glücklich. Die meisten Mitarbeiter dürfen währenddessen ohnehin keine Filme zu sehen, sie halten den Laden am Laufen. Ihnen sei hier kurz gedacht.
6. Im Haus der Berliner Festspiele: Mit einem Arbeitsrichter aus Potsdam komme ich in der Schlange ins Gespräch, wir sitzen am Ende nebeneinander auf dem Balkon. Als ich meine Notizen mache, leuchtet er mir plötzlich mit einer LED-Taschenlampe aufs Papier. Ich erschrecke, wie hell das ist. Reagiere erst etwas zu barsch, dann freundlicher. Danke, die Notizen schreibe ich blind, seit Jahren. Ich schreibe Vokabeln und szenische Momente auf, diese Berlinale mussten vier Stenoblöcke dran glauben.
7. Gedolmescht wird im Film "Tryptichon" von Robert Lepage und Pedro Pires, und zwar in einer Arztpraxis, und in Feo Aladags "Zwischen Welten" hat ein Dolmetscher, der leider im Programm oft "Übersetzer" genannt wird, eine wichtige Rolle.
8. Bei "Tryptichon" gibt es wiederholt Übergänge, in denen jemand die Kamera verdunkelt oder auf sie zugeht oder etwas anderes geschieht, was dem Rumwischen an der Optik entspricht, der bei "Meine Mutter, ein Krieg und ich" von Tamara Trampe und Johann Feindt wiederholt ein Sequenzübergang ist. Weil sich genau hierin die Filme sehr ähnlich sind, entstehen aufgrund der Montagetechniken in meinem Kopf Bezüge zwischen diesen zwei sehr unterschiedlichen Filmen. Für jeden Zuschauer ist schon wegen der Filmauswahl die Berlinale komplett anders.
9. Meine Lieblingsproduzentin aus Kanada traf ich wie geplant zufällig bei Lepage, sonst sah ich nur bekannte Gesichter im Vorbeirennen, meistens drängten Verabredungen und Vorführtermine. Früher war mehr Zufall. Die Berlinale weist jedes Jahr einen neuen Spielort auf, so jedenfalls fühlt es sich an. Das ist für den Zufall schon mal abträglich.
10. Der Preisträger Resnais heißt nicht Allah mit Vornamen, und bei seinem Nachnamen wird weder das erste, noch das zweite "S" ausgesprochen, leider schwirren einige kuriose Varianten durch Raum und Äther. Wir sollten für Eigennamen bei der Berlinale eine akustische Aussprachedatei einführen. Bei der ARD gibt's sowas. Und den Moderatoren abtrainieren, an ihren Moderationskärtchen zu kleben. Und überhaupt, wieder mehr Deutsch einführen. Zwei ausländische Gäste meinten unabhängig voneinander, die Quasi-Abschaffung der deutschen Sprache am Potsdamer Platz sei, auf Frankreich übertragen, in Cannes undenkbar. Der eine meinte: "Hitler ist schuld", eine andere verwendete das Wort vom "deutschen Minderwertigkeitskomplex". Was aufs Gleiche rauskommt.
11. Dafür hat die Berlinale neue Dolmetschungen zu bieten: Die Filmgespräche zu vier untertitelten Filme wurden von Gebärdensprachdolmetschern begleitet! Das finde ich ganz wunderbar! (Oder hier, die Pressekonferenz zu "Kreuzweg"! Danke, Paul.)
12. Hier noch zwei Lieb-Links der Woche: Knigge für Kinogeher von Steffen Brück, Kulturradio (rbb). Und
sitzenbleiben im Kino oder rausgehen, fragt die SZ an einer anderen Stelle: "Flucht vor dem Elend" von Paul Katzenberger.
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Fotos: C.E. || Ein Dank an die SZ für die
Genehmigung, den Ausriss zu bringen.
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