Dienstag, 10. Dezember 2013

Gedankenfelder

Bien­ve­nue ! Schön, dass Sie auf den Sei­ten meines Blogs ge­lan­det sind. Hier no­­tie­re ich nahezu täglich, wie der Sprach­be­ruf, ich bin Französischdol­met­scherin und -über­setzerin, die Sicht auf den All­tag verändert.

Dolmetschen ist immer auch interkulturelle Arbeit. Das beinhaltet, von den Vor­ur­tei­len der einen gegenüber den anderen zu wissen — und sich in län­der­spe­zi­fi­schen Besonderheiten auskennen zu lernen. Mit Frankreich und Deutschland war das für mich viel Arbeit, und zugleich dank einer anderen "interkulturellen Er­fah­rung" völ­lig selbstverständlich.

Ich bin in "Westdeutschland" geboren (wie es "Westberliner" ab Mitte 40 noch heute sagen), im anderen Teil Deutschlands lebte aber der Großteil der Verwandtschaft, so lernte ich von Kin­des­ta­gen an, dass Begriffe ihr jeweils eigenes Hinterland ha­ben können, dass As­so­zi­a­tions­ket­ten mitunter andere sind, dass sich je nach Si­tu­a­tion mö­gli­cher­wei­se ein- und derselbe Mensch anders ausdrückt.

DolmetschpultUnd manchmal bedeutete schon auf Deutsch ein- und dasselbe Wort sogar etwas anderes, zum Beispiel das Wort Konsum (mit langem, be­ton­tem U) als Synoym für Ver­brauch, Einkauf und das, was man sich leisten kann. Auf Ostdeutsch war der Konsum, das O betont, das U kurz, ei­ner der Lä­den der Stadt, in der meine Familie lebte.

Dann kam sehr früh Frankreich hinzu. Ich durfte ohne zu vergleichen eintauchen in die französische Kultur und Sprache. Das war mein Glück. Nur so konnte ich die Vernetzungen der Worte und vieles von dem, was mitschwingt, überhaupt lernen.

Sprachkenntnisse allein machen niemanden zum Übersetzer oder Dolmetscher. Die Übertragungsarbeit folgt Kulturtechniken und Regeln, die sich ler­nen lassen. Davor aber stand harte Arbeit. Es hat sich so angefühlt, als würde ich Fran­zö­sisch und auch Deutsch ein weiteres Mal lernen. Ich musste nämlich die Entsprechungen ler­nen, die oft bestehende Nähe als solche erkennen, die Unterschiede wahr­neh­men, die Übergänge üben, ich durfte un­ter­schied­li­che Gedankenfelder un­ter­schied­li­cher Kulturen dort in Übereinstimmung bringen lernen, wo sie über­ein­stim­men, und anderswo klar die Verschiebungen spüren lernen. Diese sind oft historisch be­dingt, das hilft beim Lernen. Oft ergeben sich diese Erkenntnisse aber nur im Alltag. So entwickelt sich ein erweitertes Sprachgefühl.

Ein Sprachgefühl auch für komische Dinge: Selbst gerechnet wird hier und dort an­ders. Zahlenbeispiele habe ich schon öfter gebracht. Auch in der Phi­lo­so­phie gibt es zentrale Unterschiede zwischen beiden Ländern, gerade weil Frankreich und Deutschland einander hier immer wieder bereichert und angeregt ha­ben. Hier geht et­li­ches auch aufs Konto schlechter Übersetzungen; ich habe mich immer ge­wei­gert, diese in die Hand zu nehmen, weiß aber, dass diese Ebene zum vollen Be­grei­fen der Miss­ver­ständ­nis­se nötig wäre.

Zum Abschluss noch zwei einfache Beispiele für diese Verschiebungen im Alltag. Wer als Dolmetscherin oder Übersetzerin das im Schlaf kann, hat seine Kulturen wirklich verinnerlicht. So sagen zum Beispiel die Deutschen in "14 Tagen" oder in "zwei Wochen", auf Französisch heißt das dans quinze jours, also in 15 Tagen. Bitte jetzt keine Fragen, ich weiß auch nicht, warum das so ist. Auch die mittelfristigen Wettervorhersagen erstrecken sich in Frankreich über 15 Tage, in Deutschland über zwei Wochen.

Auch ihren Kalender verstehen die Franzosen sehr oft anders. La rentrée, dieser kollektive "Almabtrieb" runter von den Bergen, weg von den Stränden und Dörfern (bei Großmuttern), wenn das schulische, politische, soziale, akademische und li­terarische Leben wieder anfängt (la ren­trée sociale, la rentrée politique, la rentrée sociale, la rentrée universitaire, la rentrée littéraire), dieser kollektive Start in die neue Saison wird in Frankreich nicht selten wie ein Jahresanfang ge­wer­tet.

Wenn im November oder Dezember jemand l'année dernière sagt, letztes Jahr, dann ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Zeit vor der Sommerpause ge­meint. Jetzt, so kurz vor dem Jahreswechsel, klingt das für deutsche Ohren ir­ri­tie­rend.

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Foto: C.E. (Archiv)

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