Dienstag, 11. Juni 2013

dépaysée

Gu­ten Tag! (oder gu­­ten Abend, gu­­te Nacht ...) Ab­­sicht­­lich oder zu­­fäl­­lig sind Sie auf den Blog­­sei­­ten ei­ner Sprach­­ar­­bei­terin gelandet. Wie die Arbeit als Dol­met­scher­in und Über­setzerin sich bis in die Träu­me aus­wir­ken kann, erzäh­le ich hier.

Die Reise war lang gewesen. Als ich am Morgen aufwache, bin ich noch immer die­selbe.

Dépayser ist ein französisches Verb, das bedeutet, dass man an einem anderen Ort völlig fremd ist und die Glückseligkeit erlebt, sich selbst vergessen zu dürfen. Das Nomen dazu lautet le dépaysement, wörtlich übersetzt kommt etwas wie "Ent­lan­dung" heraus. Verwende ich die Vokabel le pays aber in dem Sinn, wie sie oft ge­braucht wird, chez nous, au pays, geht sie in Richtung "Heimat", was mich zu "Ent­hei­ma­tung" führt, allerdings ohne eine möglicherweise mitschwingende be­droh­li­che Konnotation.

"Schlafzimmerblick"Als Reisende erleben wir uns in neuem Kontext anders, viel­­leicht substanzieller; wir ler­nen, von uns selbst abzusehen; der Hinterkopf spielt mit der biographischen Möglichkeit, woanders geboren worden und durch andere Einflüsse viel­leicht eine(r) andere(r) ge­wor­den zu sein.
Urlaub ist immer auch Urlaub von sich selbst.

Bei mir hat schon entspanntes Schlafen diese Wirkung. Und weil der Dol­met­scher­kopf regelmäßig viele Synapsen basteln muss, um neues Wortwerk festzumachen, zählt Schlafen zu meinen Hobbies.

Im Traum bin ich erst ganz alltäglich ich selbst, dann in einem mir fremden Kon­text, erst spreche ich die eine Sprache, dann eine andere, treffe auf Men­schen, die ich noch kennenlerne und auf solche, die sich aus meinem Alltag ver­ab­schie­det haben, stelle ihnen schon mal überfällige Fragen, erhalte (meistens) versöhnliche Antworten, wandele mich von der Frau zum Mann, reise durch die Alter, gehe, lau­fe, hüpfe, fliege. Meine Träume führen mich sehr weit.

Neulich habe ich etwas Bedrohliches geträumt, ich glaube, ein Kind geriet in Le­bens­gefahr. Ich war als Retterin nicht rechtzeitig zur Stelle. Da es mein Traum war, über die Besitzverhältnisse bestand nicht der Anflug eines Zweifels, konnte ich ihn zurückspulen, das Kind retten, beruhigt weiterträumen. Ja, meine jahrelange in­ten­si­ve Beschäftigung mit Film (als Übersetzerin, Dolmetscherin, Dozentin, Re­chercheurin) hat Spuren hinterlassen.

Vor langer Zeit habe ich mal was über "Klarträumen" gelesen. Das fand ich alles einleuchtend, habe es aber nicht weiter verfolgt, vermutlich, weil ich längst im­mer wieder bewusst träume. Noch bewusster ist mir aber meine Freude an Rol­len­wechseln. Die lebe ich tags als Dolmetscherin aus, denn ich schlüpfe in die ver­schie­den­sten Bereiche, Texte und damit in Leben hinein. Es ist auch eine Form von dépaysement ("Ent­hei­ma­tung" im positiven Sinne).

Eine meiner Freundinnen aus Schultagen ist Schauspielerin geworden. Das habe ich mir als Teenager auch vorstellen können. Heute bin ich froh, dass es anders ge­kom­men ist, denn ich habe mehr Einfluss auf die eigene Auftragslage als besagte Freundin. Den Rest kompensiere ich schlafend. Die Reise war lang gewesen.

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Foto: C.E. (Archiv)

2 Kommentare:

OHE hat gesagt…

Vorschläge: verfremdet, unbehaust, entwurzelt. Alles negativ.

Dieser Zustand wird auf deutsch offensichtlich nicht als positiv, als Glück empfunden. Entgrenzt, ungebunden, abgehoben, befreit, schon besser, aber nicht direkt darauf bezogen.

Es bleibt dabei. Die Deutschen empfinden in diesem Punkt anders als die Franzosen, ausweislich der Sprache. DH

caro_berlin hat gesagt…

Ja, schön empfunden und mitgedacht.

Und ich hirne gleich am nächsten Punkt rum, auf deutsch ... Goethes Deutsch ... etc.

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