Bonjour ! Hier ist nicht alles Französisch, auch wenn Sie eine Seite des virtuellen Arbeitstagebuchs einer Französischübersetzerin und -dolmetscherin aufgeschlagen haben. Als Sprachmittlerin reise ich viel, manchmal nur in Text und Bild ...
In der Künstlerwohnung, in der ich bis vor einer Woche in Marseille gewohnt habe — ich habe unter anderem dieses Seminar hier verdolmetscht und werde per Wohnungstausch dort bald wieder einige Zeit leben —, lag die deutsche Übersetzung eines dicken Buches auf dem Kühlschrank: "Die Marseille-Trilogie" von Jean-Claude Izzo, ein Krimi-Sammelband. Ich habe reingeschmökert und werde mir die Bücher bald in der Sprache besorgen, in der sie geschrieben worden sind, auf Französisch. Das Lokalkolorit war jedenfalls so stark, dass meine sonstige Abneigung gegen Krimis rasch überwunden war.
Krimis in Buchform mag ich nicht sehr, weil sie mir meistens zu lang und von zu viel Personal bevölkert sind. Da ich normalerweise vor dem Einschlafen immer eine Viertelstunde aus reinem Vergnügen schmökere, lese ich privat sehr langsam, das passt nicht zu Krimis, bei denen oft kleinste Details zählen. Bei Filmen ist das einfacher, da ist (spätestens) nach anderthalb Stunden alles klar (sofern ich nicht die Figuren verwechsele). Fernsehkrimis sehe ich manchmal bei Freunden, wobei mich dabei eigentlich nur die Schilderung der Gesellschaftsschichten interessiert. Oder ich sehe im Film- und Fernsehmuseum oder bei einer Retrospektive im Kino einen DDR-Krimi und freue mich daran, wie ganz vorsichtig darin Gesellschaftskritik versteckt wurde.
Als Dolmetscherin, die auch schon mal an einem Tatort und in der Anatomie dolmetschen musste, finde ich allein schon den Gedanken pervers, dass auf der Frage, Wie-und-warum-ist-ein-Mitmensch-zu-Tode-gekommen, im Grunde die ganze mediale Unterhaltung basiert. In was für einer Welt leben wir, wenn der Sonntagabendkrimi zur zentralen Grunderfahrung unserer Gesellschaft wird? Ich stimme mit Günter Lamprecht überein, wenn er sagt: "Zum Abendbrot eine Leiche oder manchmal gleich drei oder vier, da werde ich sauer. Man spielt heute mit dem Tod nur so herum. Wir nehmen das nicht mehr ernst, wenn da einer stirbt."
Keine Regel ohne Ausnahme. Gerade lese ich (etwas mehr tagsüber, der Sommer ist ruhig und der weltbeste Patensohn verschwindet stundenlang hinter seinen Harry Potter-Büchern) die französische Fassung der "Berlin-Trilogie" von Philip Kerr, in der leider lauter komische Schreibungen bis hin zu fiesen Deutschfehlern stecken. (Manche Ortsangabe ist falsch, eine deutsche Dagmarr mit zwei "R" habe ich noch nicht kennengelernt, und wenn Kerr versucht, einen Satzteil zu deklinieren, der international verständlich sein sollte, geht es meist daneben.) Aber es ist interessant zu sehen, wie hier Zeitgeschichte verpackt wurde. Ich bin erst auf Seite 75, mehr kann ich noch nicht sagen.
Im Anschluss daran möchte ich den neuesten Berlinkrimi von Kerr auf Englisch lesen: If the dead rise not ("Die Adlonverschwörung") liegt schon im Regal, ein Dolmetscherkollege, der in meiner Berliner Wohnung zu Gast war, hat das Buch zurückgelassen.
Der Kerr-Tipp kam ursprünglich von einem kanadischen Journalisten. Ein anderer Tipp bezieht sich auf Marseille, denn "Der Freitag" hat gerade dieser Stadt einen Artikel gewidmet. Prompt findet der Krimi Erwähnung, den ich in Marseille zu lesen begonnen hatte ...
Achim Engelberg, der Autor des Artikels, beschreibt außerdem Marseille als "eine Stadt für Fotografen". So beende ich meinen langen Ausflug in die Welt der Krimis mit meinem heutigen Sonntagsbild.
Die Männer rechts spielen im Park pétanque, wie Boule auf Südfranzösisch heißt. Soundscape zum Bild: Die spitzen Schreie der Mauersegler beim Mückenfang.
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Foto: C.E. (Wenn Sie das Foto in einem neuen
Fenster öffnen, können Sie ein wenig "reinzoomen".)
Danke, Heiner, für den Lesetipp!
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