Donnerstag, 19. April 2012

Innerer Saboteur

Hallo! Sie haben die Blogseite einer Französischdolmetscherin angesteuert. Neben der mündlichen Übertragung arbeite ich auch schriftlich, also als Übersetzerin. Dieser Blog entsteht in diversen Dolmetscherkabinen, am Schreibtisch und in den Konferenzräumen und Hinterzimmern dieser Republik. Dabei vermittelt sich mir unabhängig vom Arbeitsort immer öfter der Eindruck, ein ewiger Prüfling zu sein.

Titelschrift auf Popfarben: Was mache ich hier?
Wie gut, dass ich seit letzter Woche meine tägliche Lese- und Lernzeit in Sachen Europa-, Wirtschafts-, Finanz- und Energiepolitik mehr als verdoppelt hatte, denn für gestern hatten sich Dolmetschkunden angekündigt, ohne mir mitzuteilen, für welches Thema sie nach Deutschland kommen würden. So durfte ich Mittwoch an der Seite von zwei Journalisten aus Marokko mit einem großen deutschen Energieversorger sprechen; die Namen der Interviewten und das genaue Thema wurden mir gerade mal einen halben Tag vor dem Einsatz mitgeteilt.

Aber so schnell schockiert mich nichts mehr. Oder besser: Ich habe meinen inneren Saboteur meistens auch dann im Griff, wenn er sich zu recht aufregen würde. Montagabend wäre eine gute Gelegeneheit dazu gewesen. Ein ruhiger Abend, ich war sehr entspannt, als das Telefon läutete und eine Kollegin mich wegen einer akuten Erkrankung bat, sie am nächsten Morgen zu vertreten. Und auch sie konnte nicht wirklich ein Thema nennen: "... Aktuelles halt". Offenbar scheinen derlei Prüfungssituationen bei politischen Themen allgemeiner Natur gerade in Mode zu kommen, sei's drum! Erstens blieb ohnehin keine Zeit mehr, um sich aufzuregen, und zweitens hatte ich das Gefühl, gut auf viele aktuelle Themen vorbereitet zu sein.

Und auch Marokko kommt jetzt öfter vor! So ging's also Dienstag an der Seite von zwei marokkanischen Politikberatern zu einem Termin. Die Spannung hätte typisch mündliche Prüfung halt! kaum größer sein können, als der deutsche Vorsitzende der Prüfungskommission, der Gastgeber, der eingerahmt von zwei Damen an der anderen Seite des Tisches saß, den großen Umschlag zückte und das Thema verlas: "Deutsche think tanks mit wissenschaftlichem Anspruch im tagespolitischen Geschäft". Der Prüfling, also ich, sammelte sich kurz, atmete einmal tief durch ... und fing an, zu sprechen.

Zum Glück wurde mir der Inhalt vorgegeben, darin unterscheidet sich die Sache von so manchen Prüfungen; allerdings gab es weder einführenden Text noch eine Vokabelliste oder sonstige Hilfsmittel zur Vorbereitung der Verdolmetschung, wie wir es sonst bei Sprachprüfungen kennen ...

Und gleich noch ein Glück: Ich durfte die Dolmetschart wählen. Ich setzte mich also zwischen die zwei Gäste aus dem Ausland und flüsterte; die Fragen übersetzte ich mehrheitlich konsekutiv, so gelangten sie besser auf die andere Seite des Konferenztischs. Bis auf wenige Fachtermini, die ich den Antworten entnehmen konnte, bei den Fragen hatte ich sie noch umschrieben, war das geforderte Vokabular Standard. Ich konnte auf "Autopilot" schalten. Nur einmal schreckte ich wie wohl bei jedem Einsatz einmal kurz zusammen und die Frage: "Was mach' ich hier eigentlich?" verlangte nach Raum den ich ihr aber nicht gab.

Ob diese Art von Anfechtungen auch Dolmetscher kennen, die zum Beispiel seit einem Vierteljahrhundert im Job sind? Ich beobachte zunehmend distanziert, wie sich das kleine Störprogramm von selbst abspult, ich kämpfe nicht dagegen an, das würde mich mehr Energie kosten, als einfach den Ton leise zu drehen: Warum hab ich hier keine Ablösung? Ach ja, nur ein kurzer Termin. Kurz, hm, das ist ja wohl relativ, wir sitzen schon ziemlich lange hier. Und alle sehen mich an. Nein, alle hören mir zu. Hab ich den Satz eben zuende gesprochen? Und autsch!, war die Angleichung nicht falsch? Die hören jetzt gerade nur auf jeden klitzekleinen Fehler, die könnten es ohnehin besser als ich. Nee, war kein Fehler, warum zweifle ich, falls doch, 'versendet sich'. Jetzt auf jeden Fall von der Meta-Ebene fernbleiben, später nachdenken, jetzt machen. Eigentlich bin ich hier die Einzige, die wirklich und ununterbrochen schuftet. Die anderen können sich zwischendurch vom Sprechen ausruhen, wie ungerecht. Und jedes Zögern meinerseits, also wie heißt das gleich noch, das Wort ... jetzt habe ich sicher eine mehr als einige Sekundenbruchteile lange Pause eingelegt, viel zu intensiv nach der richtigen Vokabel gesucht, wo ist der abschließende Halbsatz? Ist er vielleicht noch gar nicht ausgesprochen worden, dehnt sich jetzt wieder die Zeit, ogott, alle Augen sind auf mich gerichtet, Danke, ich möchte keinen zweiten Kaffee, ja, Wasser ist mir lieber, oh, ich habe gerade gehustet, die könnten sich genauso gut über mich lustig machen jetzt, galt das Grinsen in Monsieurs Mundwinkel da, dieser kleine Anflug, nicht mir oder was und warum schüchtere ich mich selbst jetzt schon wieder ein, die Stimme trägt, sie ist gut, keine Selbstzweifel sind auch nur entfernt zu hören, ich gehe eine halbe Oktave tiefer, atme tiefer durch, verlangsame mein Tempo, lasse eine Redundanz aus, ja, doch, es wird besser, also richtig schlecht bin ich nicht!

Der ganze innere Monolog dauert nur Sekunden(bruchteile?). Nach dem Gespräch kommen die Komplimente und Händeschütteln. Der Prüfling hat mal wieder bestanden.

"Ihr Dolmetscher setzt Euch ja schon extremen Situationen aus", sagt meine Freundin Sandra, eine Schauspielerin, wenig später beim Mittagessen. Und als hätte mir der Dienstagvormittag nicht gereicht, wiederhole ich das Ganze am Mittwochvormittag ... nur da kannte ich das Grobthema einen halben Tag im Voraus. Welch' Luxus!

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Foto: C.E. (Motiv gibt's in holzbraun
irgendwo als Frühstücksbrettchen)

1 Kommentar:

Vega hat gesagt…

Scharfe Story! Und geschrieben noch viel besser als neulich erzählt!

Haben Deine Kunden von Deiner Irritation überhaupt etwas bemerkt und wenn ja, haben sie in irgendeiner Weise zum Versäumnis Stellung bezogen? Ich meine, das ist doch ein Klacks, mal eben Thema und Anlass zu sagen, oder?

Ich wünsche Dir und Deinen Lieben schöne Pfingsten und bis bald,
Gruß, Bine