Samstag, 17. November 2007

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat ...

... und einen Beruf ausübt, den man nicht gelernt hat.

Heute wollte ich hier mal nichts schreiben. Ich schleife am ersten Kapitel meiner Übersetzung. Aber mit vielen Pausen, in denen ich Gutes lese oder auch höre, richtiges, schönes, geschliffenes Deutsch. So stieß ich auf "Das blaue Sofa", Gespräche, die dieses Jahr auf der Buchmesse in Frankfurt stattgefunden haben und die über die ZDF-Sendung 'aspekte' online abrufbar sind.

Die meisten Beiträge sind auf Deutsch. Nach etlichen Pausen mit deutschen 'hommes et femmes de lettres' bin ich gespannt, wie ausländische Gäste hier betreut werden. Ich klicke Pierre Bayard an und lehne mich zurück. Zu meiner Überraschung outet sich der Moderator, der neben dem französischen Prof sitzt, in der ersten Sendungsminute als des Englischen unkundig, aber Frau von Bülow, die das mitbekommen habe, werde jetzt aushelfen, und er bittet zu bedenken, dass sie von Berufswegen nicht "Übersetzerin" sei. (Wieder einer, der nicht weiß, dass hier das Wort 'Dolmetscherin' fallen müsste.)

Es geht los, die Ankündigung hat gewirkt wie ein doppelter Espresso, ich bin hellwach. Und ich staune und freue mich: die dunkelhaarige Dame im Hahnentrittjäckchen macht ihre Sache sehr gut. Ihr Deutsch ist exzellent (dafür bin ich ja hier), sie kennt das Buch, um das es geht, offenbar gut, sie hat Ausstrahlung.

Und sie arbeitet wie alle Dolmetscher, sie übersetzt "ich", wenn der Gast "je" gesagt hat, und zum Satzende geht ihre Stimme nach unten. Das, was sie wiedergibt, ist immer, vom Sprachniveau her betrachtet, eine kleine Ebene höher angesiedelt als das, was der Gast auf dem blauen Sofa gesagt hat. Dann, nach den ersten Worten, in denen sie dennoch sehr 'nah' an Pierre Bayard geblieben ist, entfernt sie sich von seinen Worten, wird komplexer, verschiebt ein wenig den Focus, ergänzt einen Nebensatz um Nichtgesagtes, das aber in seine Worte hineingelegt werden kann. Wie gesagt, Dolmetscher heißt auf Französisch "interprète", es geht also um eine Form der Auslegung. Nur manchmal fügt sie einen Nebensatz hinzu und sagt dann: "wenn ich das hinzufügen darf" ... Den Satz hören Sie von Dolmetschern nicht.

Und das Trio auf dem Sofa macht alles richtig, besonders die Dame. Das darf ich keinesfalls in meinem Weblog schreiben, denke ich mir, und: Diese Frau hat den Beruf verfehlt, ein Naturtalent. Wie für Medien ideal, sind die Antworten immer sehr kurz, fünf bis acht Sekunden lang spricht Pierre Bayard jeweils, das geht auch ohne Notizen. Auch bei den kurzen übersetzten Antworten beobachte ich einen typischen Anfänger- und Unsicherheitsfehler: Die Übertragungen werden länger als das Gesagte ...über das langsame Verfertigen der Gedanken beim Sprechen. Aber die Stimmung stimmt, sie trifft immer den Kern, ist nah am Autor dran, einem Uniprofessor, der über die Kunst schrieb, über ungelesene Bücher kenntnisreich zu sprechen, siehe unten.

Nun, zur Rehabilitation der Branche sei gesagt: lange Aussagen und sehr lange Veranstaltungen, die sich über Tage hinziehen können, fühlen sich immer an wie der Marathon, für den wir ausgebildet worden sind, und das geht dann nicht ohne Notizen, Methode und Erfahrung. Und auch nicht ohne umfassende Allgemeinbildung, Fachkenntnis und geschultes Werkzeug. Die Muttersprache der improvisierten Dolmetscherin sitzt fest. Das unterscheidet die Dame auf dem blauen Sofa von der typischen Studentin aus deutsch-französischem Elternhaus, die in den letzten Jahren sogar von großen Kultureinrichtungen der Hauptstadt (aufgrund von "Sparzwängen") zum Dolmetschen auf die Bühne geholt wird und dort rasch an ihre Grenzen stößt.

Wer ist also Frau von Bülow? Zwei Klick später weiß ich es: Bettina von Bülow hat Germanistik und Romanistik studiert, dann nach vielen Jahren als Lektorin und Programmleiterin großer Verlage ihr eigenes Unternehmen 'spirograf' gegründet, mit dem sie über das Netz Leser, aber vor allem Verlage über fremdsprachige Neuerscheinungen und den Buchmarkt informiert – als Literatur-Scout.

Als Lektorin hatte sie also jahrelang mit Übersetzungen zu tun, und überträgt bis heute Kultur von einem Medium ins andere.

Hier macht sie jedenfalls eine souveräne Figur, erlaubt sich sogar, mit viel Charme ein anderes Gesetz der Branche zu durchbrechen: Sie macht einen Witz. Als es um die Frage geht, was "richtiges Lesen sei", spricht Pierre Bayard über Ablenkungen: "Il nous arrive de lire un livre dans une librairie et d'arrêter parce qu'il y a une belle passante dans la rue ..." und verkneift sich ein Grinsen. Darauf Frau von Bülow: "Es passiert, dass man in der Buchhandlung ist, ein Buch im Stehen liest, und plötzlich geht ein gutaussehender Mann auf der Straße vorbei." Jetzt lächelt sie Bayard an, erwartet stummes Einverständnis, aber er hat sie nicht verstanden. Er ist ja Franzose.

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Pierre Bayard: "Wie man über Bücher spricht, die man nicht 
gelesen hat", aus dem Französischen von Lis Künzli, Verlag 
Kunstmann, € 16,90

Bayard saß am Mittwoch, dem 10. Oktober 2007, auf dem 
"blauen Sofa" – und hat natürlich von der "schönen Passantin"
gesprochen, die den Blick abschweifen lässt ...

Weitere internationale Gäste: Umberto Eco, er muss aber
Englisch sprechen, und Georges-Arthur Goldschmidt (Donners-
tag). Da er aus Deutschland stammt, gibt es keine Sprachprobleme.

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