Donnerstag, 19. Januar 2023

Übersprungshandlung

Wie Über­setzer:in­nen und Dol­met­scher:in­nen ar­bei­ten, erfahren Sie hier. Meine Arbeits­sprachen sind Fran­zö­sisch und Deutsch (Mutter­sprache) sowie Englisch, in kurzen Notizen aus dem Arbeitsalltag.

Nota­riats­dol­metschen: Wir sind zu viert im Raum, nein, eigentlich zu fünft. Ein wohl­ge­wölbter Schwan­ge­ren­bauch kündigt hier aufs Schönste be­vor­ste­hen­de Änderungen an. Als die Notarin und ich den Bespre­chungs­raum betreten, sitzen die werdenden Eltern allerdings so weit ausein­ander, wie der große Tisch es nur zulässt.

Die Notarin spricht die Sitz­ordnung umge­hend an, denn "sowas hab ich ja noch nie gesehen". Und prompt fällt die Befra­gung der beiden sehr ausführ­lich aus, wo sie sich ken­nen­gelernt haben, was die wei­te­ren Umstände ihrer Ver­bin­dun­gen ge­we­sen seien, es geht um Details und um einen mög­li­chen Auf­ent­halts­titel für Mutter und Kind. Die wer­denden Eltern kommen von weit her. Mon­sieur spricht recht gut Deutsch, hat einen deut­schen Pass. Ich dol­met­sche für Ma­dame.

Die beiden werden ein­zeln befragt, erst er, dann sie. Für die an­we­sen­de Dolmet­scherin (mich) keine ein­fache Übung: Ich muss spon­tan die Klappe hal­ten und auf Anwei­sung warten. "Ist es plau­sibel, dass das Kind in dieser Verbin­dung entstan­den ist, oder ist der anwe­sende Mann jemand, der hier einer an­de­ren Person ein Blei­be­recht in Deutsch­land ver­schafft?", diese Frage steht in großen Let­tern un­aus­ge­spro­chen über dem Gan­zen.

Es finden sich viele Über­ein­stim­mungen, aber auch Wider­sprüche. "Der Gesetz­ge­­ber ver­pflich­tet mich zu dieser Befragung", sagt die No­tarin entschul­di­gend dazu später, "das macht mir keinen Spaß, glau­ben Sie mir." 

Auch für mich ist es quä­lend. Mein Pro­fes­sio­na­lis­mus kaschiert das — sogar vor mir selbst! 

Die Erschienenen beantragen, ihnen je eine beglaubigte Abschrift dieser Urkunde zu erteilen sowie dem Kind ebenfalls eine beglaubigte Abschrift dieser Urkunde zu übersenden.
Rätselhafter Satz in der Urkunde
Pawlow ist wie immer mein Freund, meine Ener­gie gilt dem Dol­met­schen und nichts an­de­rem.
Wie sehr mir die Sache an die Nieren geht, fällt mir an einer Über­sprungs­hand­lung auf. Bei einem Satz muss ich fett grin­sen, für die Be­teilig­ten wä­re es unvermit­telt gewesen, wenn es jemand bemerkt hätte. Und zwar beim neben­ste­hen­den Absatz:

"Wie, bitt­eschön, soll der Brief in den Schwan­ge­ren­bauch zuge­stellt werden kön­nen?", fragt der Hinter­kopf mein Haupt­be­wusst­sein keck. Der Schalk ist immer da. Ich sehe vor dem inneren Auge einen bunten Drink mit einer Oran­gen­scheibe, die oben auf dem Glas­rand steckt, im Getränk ein klitze­kleines Briefchen, das dann im Zei­chen­trick­film­stil langsam durch Speiseröhre und Magen gleitet und über die Blut­bahn zum Kind ge­langt.

Und ich dol­met­sche weiter, lasse mir nichts anmerken.

Für den Einsatz habe ich die Rechnung Nr. 01/2023 schreiben dürfen. Das ist doch mal was. Und statt der sonst üblichen 20 Minuten vor Ort waren wir die vierfache Zeit im Be­spre­chungs­raum der Notarin. Künf­tig werde ich im Kos­ten­vor­an­schlag die Durch­schnitt­sdauer hoch­setzen.


Vokabelnotizen
Das Visum ist abgelaufen — Le visa a expiré
Sorge­er­klärung — déclaration de garde
Sorgerecht, elterliche Sorge — droit de garde [umgangs­sprach­lich], autorité parentale
das Sorge­recht für jeman­den haben — avoir la garde de ...
ge­mein­sa­mes Sorge­recht — autorité paren­tale partagée / con­jointe, garde par­tagée [ugs]
allei­ni­ges Sorge­recht autorité pa­ren­tale ex­clu­sive
ungeborenes Kind — enfant à naître
jemanden enterben — exhéréder, déshériter
Pflicht­teil — réserve hé­ré­di­taire, part réser­va­taire
Erbrecht — droit de suc­ces­sion
Voll­macht ertei­len  — donner une pro­cu­ration

______________________________
Foto:
C.E.

Keine Kommentare: